Ein aufschlussreicher Irrtum Hegels

von Jörg Seidel


Hegel, nachdem er seinen Status als Gelehrter, Beamter und Ehemann gefestigt hatte, entwickelte, aus Gesundheits- und Bildungsgründen, auch um Freunde zu besuchen, eine bis dahin ungewöhnliche Reisefreude. Er lehrte seit 1818 bis zu seinem Tode im Jahre 1831 in Berlin. Erste, kurze Reisen führten ihn nach Dresden (1820/1821), aber schon 1822 entschloss er sich zu einer längeren Reise nach Brüssel, seinen langjährigen und treuesten Verehrer, van Ghert, aufzusuchen. Zwei Jahre darauf folgte eine Reise nach Wien, und 1827 schließlich erfüllte sich Hegel einen langjährigen Traum und reiste nach Paris, später noch einmal nach Prag und Karlsbad. Er nutzte diese Zeiten stets sehr intensiv, um Galerien, Theater und Opernvorstellungen zu besuchen und unterließ es nicht, seiner Frau davon in ausführlichen Briefen zu berichten. Diesen Briefen verdanken wir die Kenntnis darüber, was Hegel sah, wovon er beeindruckt, wovon er enttäuscht war, kurz, wir lernen sein ästhetisches Empfinden jenseits der theoretischen Schriften kennen. Das ist nicht unerheblich, gingen doch viele der Impressionen in seine Werke, insbesondere in die "Ästhetik" ein. Hegel zeigt sich hier als Kunstkenner von hohen Graden mit sehr feinem Sensorium und einem enormen Gedächtnis. Man darf nicht vergessen, dass Vergleiche von Kunstwerken, wie er sie hin und wieder anstellte, oftmals auf Erlebnissen basieren, die Jahre voneinander getrennt sind, an die heute alltäglichen Reproduktionen aber nicht zu denken war, zumindest nie mit photographischem Anspruch. So erfahren wir etwa von seiner Begeisterung für Michelangelo, dessen Werke zu sehen, er, der stets unter den Reisestrapazen litt, nicht scheute, Umwege zu nehmen. Am 9. Oktober 1822, während seiner Brüsselreise, schreibt er an seine Frau: "Ich habe, statt gerade aus zu fahren, der Begierde nicht widerstehen können, hier abzusteigen, um ein Denkmal, von Michelangelo verfertigt, zu sehen - von Michelangelo! Wo kann man sonst in Deutschland eine Arbeit von diesem Meister sehen?" (Briefe Bd. 2, 358), und Tags darauf: "Also abends, nachdem ich an Dich geschrieben, auf dem Wagen nach Breda, - dort das herrliche Werk von Michelangelo gesehen - ein Mausoleum. Sechs lebensgroße Figuren von Alabaster, weiß - ein Graf und seine Frau liegend im Tode, und von vier Figuren: Julius Caesar, Hannibal, Regulus und ein Krieger gebückt stehend an den vier Ecken des schwarzen Steins, worauf jene liegen, und tragend auf den Schultern eben einen solchen schwarzen Stein - herrliche, geistvolle Arbeit des größten Meisters" (360). Hegels Begeisterung ist noch in seiner großen Ästhetik zu spüren, wo er, um zu zeigen, dass die "christliche Skulptur", insbesondere wo sie sich den Alten anschließt, "Vortreffliches zu leisten gewusst", ausschließlich auf Michelangelo rekurriert: "...vor allem aber hat mich das Grabmal des Grafen von Nassau zu Breda angezogen. Der Graf liegt mit seiner Gattin lebensgroß aus weißem Alabaster auf einer schwarzen Marmorplatte. Auf der Ecke des Steines stehen Regulus, Hannibal, Cäsar und ein römischer Krieger in gebeugter Stellung und tragen über sich eine der unteren ähnliche schwarze Platte. Nichts ist interessanter, als einen Charakter wie den des Cäsars von Michelangelo vorgestellt zu sehen. Für religiöse Gegenstände jedoch gehört der Geist, die Macht der Phantasie, die Kraft, Gründlichkeit, Kühnheit und Tüchtigkeit eines solchen Meisters dazu, um das plastische Prinzip der Alten mit der Art der Beseelung, die im Romantischen liegt, in solcher produktiven Eigentümlichkeit verbinden zu können" (Ästhetik 167f.). Selbst auf seiner Parisreise, er befindet sich auf dem Rückweg, ist die Erinnerung noch frisch. Erneut lässt er es sich nicht nehmen, eine Michelangeloplastik zu betrachten. "In Brügge sah ich die höchst denkwürdigen, herrlichen Originalwerke von van Eyck und Hemling - und kann mich nicht genug freuen, diese Ansicht genossen und noch erreicht zu haben, - auch eine Maria mit dem Kinde in Marmor von Michelangelo. - Was alles in diesen Niederlanden ist! In ganz Deutschland und Frankreich ist kein Werk von Michelangelo, und in den Niederlanden ist dieses höchst großartige, ganz eigentümlich in hoher Ernstheit aufgefasste und herrlich ausgeführte Bild der Maria und dann noch jenes unsterbliche, größere in Breda, das ich vor vier Jahren gesehen" (Bd. 3, 200). Möglicherweise trüben Zweifel etwas die Freude, denn Hegel weiß: "Das Marienbild in der Frauenkirche zu Brügge, ein vorzügliches Werk, wollen einige nicht für echt gelten lassen" (Ästhetik 167), und so fällt denn das Urteil ein klein bisschen weniger emphatisch aus. Vollends deutlich wird sein auserlesener Kunstgeschmack, aber auch sein analytisches Gespür, wenn man sich folgende Passagen eines Briefes an seine Frau vergegenwärtigt, den er im September 1821 in Dresden verfasst, um seine Eindrücke von der Gemäldegalerie zu schildern. Besonders Hans Holbeins d.Ä. "Madonna mit der Familie des Bürgermeisters Meyer" hat es ihm angetan, begeisterte ihn doch schon eine Kopie, die in Berlin zu sehen war und die er gemeinsam mit seiner Frau einst bewunderte. Er schreibt ihr: "Auf der Galerie war ich natürlich auch - und musterte die alten lieben Bekannten durch - vornehmlich war ich begierig auf das Holbeinsche Bild, wovon wir das Abbild in Berlin sahen..." (2, 292). Bis ins kleinste Detail analysiert es der Kenner "und beachtete besonders die Umstände, die ich mir daselbst ausgezeichnet hatte, den Teint der mittleren Figur unter den drei weiblichen und die Nase des Bürgermeisters und das Kind auf dem Arm der Maria" (292f.). Die Analyse dient zur Schlussfolgerung: "In Ansehung jener beiden Umstände war es mir sogleich klar, dass sie im Berliner Bild, so sehr es für sich genommen ein schönes Bild ist, von einem Schüler gemacht sind..." (293). Mehr noch, alles bewogen, wagt er sogar ein Urteil: "Es ist mir gar kein Zweifel, dass das Berliner Bild eine mit Geschicklichkeit gemachte Kopie ist, in der aber vornehmlich der Geist fehlt".

Wozu nun dieser Exkurs, weshalb die Kenntnisgabe dieser doch scheinbar unbedeutenden, unphilosophischen Begebenheit aus dem Leben Hegels, die mit unserem Thema doch kaum etwas zu tun haben dürfte? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Gemeinsame der drei Ereignisse benennen. Was alle drei Kunstwerke, die beiden Michelangelos und das Bild von Holbein gemeinsam haben, ist, dass sie alle nicht echt sind. Was Hegel nicht wissen konnte, die moderne Forschung brachte es an den Tag. Das "herrliche Werk von Michelangelo", das Grabmal in Breda, stammt nicht von Michelangelo, sondern von einem unbekannten Meister; für die Marienskulptur in Brügge bestätigte sich der Verdacht einiger, und auch das Original des Holbeinschen Bildes war jenes in Berlin, das, dem "vornehmlich der Geist" fehle.

 

Literatur:

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich:

  • Ästhetik. Berlin/Weimar 1984
  • Briefe von und an Hegel. 3 Bde. Bad Harzburg 1991

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