Das Urteil und das Imaginative Lektüre
einer Geschichte von Kafka
von Jörg Seidel
Jede Lektüre ist Noch-Einmal-Schreiben, Supplemantarität
des gelesenen Textes. Wer sich zurückhält, etwas von sich selbst einzubringen,
wer sich weigert, den Text zu befruchten, der liest nicht!
Sarah Kofman
Die Sekundärliteratur zu Kafka hat unübersehbare
Ausmaße angenommen. Das kann nicht verwundern, stellen viele seiner
Texte doch, wie wenige andere, den Leser vor schwierige Rätsel
oder sogar Geheimnisse - denn dass es eine Lösung gäbe, wäre
erst Bedingung, um ein Rätsel sein zu können. Sicher lassen
sich in der Sekundärliteratur zahlreiche und hervorragende, tiefsinnige,
möglicherweise sogar richtige Gedanken aufspüren, die den
Zugang zu den Texten erleichtern, aber nahezu alle diese Versuche, dem
Phänomen gerecht zu werden, haben einen entscheidenden, einen immanenten
Mangel: sie basieren auf Theorien. Sie betrachten den Text nicht so,
wie er sich darbietet, sondern sie betrachten ihn durch eine Brille,
sie sind gelehrt und, was noch schlimmer ist, sie sind autorisiert,
sie stützen sich auf vorgegebene, bewährte Kategorien
und Denkbewegungen. So lässt sich nicht vermeiden, dass die Auseinandersetzung
mit dem Text/dem Autor zur Explikation, zur Bestätigung vor allem,
der einmal als richtig oder nutzbar angenommenen Theorie gerät.
Seien es nun psychoanalytische, theologische, marxistische, existentialistische,
strukturalistische, poststrukturalistische, dekonstruktive oder auch
nur biographische Lektüren, in ihnen ist immer mehr über die
sich dahinter verbergende Theorie zu erfahren, als über den zu
besprechenden Text. Jene Texte, die ein Autor namens Kafka verfasst
haben will, verleiten freilich dazu; sie ziehen insbesondere die philosophischen
Auslegungen an wie Käse die Fliegen. Weil die Texte Kafkas vieles
offen lassen, eignen sie sich scheinbar besonders gut dazu, sie mit
Theorien aufzufüllen. Um so mehr mag sich der Versuch lohnen, einen
Text ohne Zuhilfenahme irgendeiner theoretischen Voraussetzung (diese
könnten sich erst nach der Lektüre anbieten) zu lesen. Dass
dies an sich unmöglich ist, kann gar nicht geleugnet werden, denn
die Theorien sind nun mal da, haben Sprache und Denken (und vice versa
diese die Theorien) jedes einzelnen kontaminiert - ob er das will oder
nicht - sie sind hier vielmehr ausdrücklich zur Kenntnis genommen.
Gerade weil dies so ist, sollte die unvoreingenommene Lektüre,
die sich bemüht, ihre Voraussetzungen zu vergessen, versucht
werden. Es kann dabei nichts Verbindliches entstehen, nur eine Meinung,
eine Lesart, die (nicht aber der Verfasser) zur Diskussion bereit steht,
aber diese nicht verlangt. Nur was ein Text für mich ist, ist -
wenn überhaupt - mitteilbar.
Selbst die Meinung des Autors - seine sogenannte Intention
sowieso - kann dabei außer acht gelassen werden und wenn an dieser
Stelle trotzdem eine Äußerung dieses Menschen zitiert wird,
dann nicht, weil sie von ihm - der es ja wissen müsste - stammt
oder weil sie etwas erklären, gar beweisen würde, sondern
allein, weil sie eine Idee zum Ausdruck bringt, in deren Nähe sich
eine unvoreingenommene Lektüre ansiedeln könnte. Findest
Du, schrieb er in einem Brief, im Urteil irgendeinen
Sinn, ich meine einen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren
Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts davon erklären.
Was geschieht in der Erzählung, die Kafka lediglich
eine Geschichte nannte? Dazu muss man den Text nun lesen.
(siehe Anhang)
Rekapitulieren wir; nicht, um den Text umzuformulieren,
griffiger zu machen, zurechtzubiegen, sondern um uns einigen Stellen
zuzuwenden, die eine gewisse Bedeutung zu haben scheinen. Bedeutung
für den Text wohlgemerkt, denn dass dieser oder Teile oder
Aussagen desselben etwas bedeuten würden - außerhalb seiner
selbst - wäre bereits eine ungerechtfertigte Unterstellung, die,
einmal angenommen - und die gesamte Literaturwissenschaft inklusive
der Exegese nimmt dies seit je an - förmlich nach einer Theorie,
nach einer theoretischen Erklärung schreit. Wir aber wollen auch
mit der Möglichkeit rechnen, dass es da nichts zu erklären
und zu deute(l)n gibt. Rekapitulieren heißt immer auch Auswählen
und jede Auswahl setzt ein handelndes Subjekt voraus. Weder aber erschöpft
die Auswahl den subjektiven Entscheid, dieser überschreitet jene
vielmehr bei weitem, noch kann sie ein an sich Bedeutsames als Ausgewähltes
geltend machen. Kurz: mit dieser Subjektivität muss man sich, objektiv
betrachtet, abfinden oder anders gesagt: diese Lektüre ist, wie
es jede andere auch sein sollte, eine abduktive, eine versuchende und
der Text gilt als potentiell vieldeutige Botschaft.
Vor unserem geistigen Auge entwirft der Text das Bild
eines kaufmännischen Zimmers, in dem ein junger Mann - Georg Bendemann,
der Protagonist - Inhaber eines vom Vater übernommenen florierenden
Geschäfts, schreibend am Fenster sitzt. Er beendet gerade einen
Brief an einen alten Jugendfreund, der sich, nun seit Jahren schon,
im Ausland, im weit entfernten Russland befindet. Nicht in den Brief,
sondern in die Gedankengänge Bendemanns erhalten wir Einblick,
die allerdings der Erzähler des Textes referiert. Demnach scheinen
die Geschäfte des Freundes in Russland zu stocken, was um so bedauerlicher
ist, als er sich dort noch immer als Fremder fühlen muss, der weder
Kontakte zur deutschen Kolonie noch zu Einheimischen aufzubauen vermochte.
Eine Situation, die der Kafkas, des deutschstämmigen Juden in Prag,
auffällig ähnelt - wie uns viele Interpreten versichern würden.
Aber das gehört nicht hier her.
Indem Georg Bendemann sich nach Beendigung des
Briefes fragt, was man einem solchen Manne schreiben solle, einem Manne,
der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber
nicht helfen konnte, gehört diese Überlegung zu einer
Rechtfertigung, und zwar des schon Geschriebenen, statt zur inhaltsbezogenen
Frage. Offenbar ist bereits geschrieben worden, bevor man sich fragt,
was man schreiben soll und dieses wird als solches, als Geschriebenes
hinterfragt. Das Man, das hier ein Ich ersetzt,
das Ich Georgs suspendiert, beurlaubt, verweist auf das
Grundsätzliche dieser Überlegung, verweist auf mehr, als ein
rein persönliches Problem. Und auch der Adressat, das Objekt der
Überlegung ist nicht mehr dieser Mann, er ist ein
solcher. Egal, was man ihm raten sollte, es betrifft jedenfalls
den Typus, nicht das Individuum. Deswegen erhält die sich daraus
ergebende Bedeutung tatsächlich Bedeutung: Das bedeutete
aber, fährt der Text fort, nichts anderes, als dass
man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kränkender, sagte, dass
seine bisherigen Versuche misslungen seien, dass er endlich von ihnen
ablassen solle, dass er zurückkehren und sich als ein für
immer Zurückgekehrter von allen mit großen Augen anstaunen
lassen müsse, dass nur seine Freunde etwas verstünden und
dass er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen
Freunden einfach zu folgen habe. Aber bedeutet der Rat, wieder
nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen tatsächlich
eine Kränkung, ein Eingeständnis - im Sinne von Vorwurf -
eines Scheiterns? Die konjunktivische Form des Verbs das bedeutete
(...die für Kafkas Texte so typisch ist), lässt
dies zwar offen, aber die Vorwegnahme der negativen Folgen scheint zu
mächtig, als dass der Offenheit ohne weiteres zu trauen wäre.
So bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als die Bedeutung als
solche zu akzeptieren (Es handelt sich hierbei nicht um die Bedeutung
des Textes, sondern um eine Bedeutung im Text). Schon entfaltet der
Text (mindestens) zwei Dilemmata, ein textinternes und ein textüberschreitendes.
Auf der ersten Ebene erfährt man, dass es für den russischen
Freund keine befriedigende Lösung zu geben scheint; er müsste
wählen zwischen zunehmender Entfremdung von den Freunden in der
Fremde (die Kategorie Freundschaft wird thematisiert) und
der Beschämung, dem eigentlichen Heimatverlust in der Heimat. Das
textüberschreitende Dilemma ist eines der Sprache, genauer gesagt,
des Zur-Sprache-bringens, denn, so schlussfolgert scheinbar Bendemann,
tatsächlich aber (man denke an das man und an die Typisierung)
der Erzähler, konnte man ihm, obwohl man ihm sich mitzuteilen hatte,
keine eigentliche Mitteilung machen, musste man in
die Uneigentlichkeit ausweichen. Man müsste mit ihm sprechen, ohne
das Eigentliche zur Sprache zu bringen, kommunizieren, ohne teilhaben
zu lassen, ohne kommun zu sein. Wenn der Leser dies tatsächlich
hinnimmt, dann könnte dies ein Hinweis darauf sein, wie weitverbreitet,
alltäglich, verständlich dieser eigentlich unangenehme Gedanke
ist. Was aber, welche Instanz, schreibt das vor? Es ist das Man,
es ist die Gepflogenheit, der gesellschaftliche Usus, die Konvention,
das Regelwerk, das unser menschliches Zusammenleben koordiniert, letztlich
also die gesellschaftlich akzeptierte Moral. Diese verhindert
die Kommunikation im Sinne des Wortes. Halten wir dies im Gedächtnis.
Kafka wollte also sagen, dass... - würden die Interpreten
jetzt fortsetzen, aber was Kafka sagen wollte, hat hier nichts zu sagen.
Wer sich für Kafka interessiert, aus welchen Beweggründen
auch immer, den Menschen also, der diesen Text mutmaßlich zu verantworten
hat, mag solch eine Schlussfolgerung mit Gewinn ziehen, aber uns kann
es nur um den Text gehen. Für unsere Zwecke, vielleicht sogar für
alle Zwecke, ist der Wille Kafkas uninteressant. Kafka ist tot, vermutlich
zumindest, denn genau genommen wissen wir nicht einmal, ob er gelebt
hat, und selbst wenn wir es wüssten, dann bliebe noch offen, ob
er der Autor dieses Textes ist etc. Dies alles können wir nur vermuten,
annehmen und diese Annahme wiederum beruht auf einem Glauben, nämlich
dem, dass all die Zeugnisse von Kafka, etwas mit jenem Mann
seines Namens zu tun hätten, dass sie wahr wären... Dass eine
solche Annahme gewisse Vorteile mit sich bringt, die es sinnvoll erscheinen
lassen, sie zu machen, bleibt unwidersprochen, denn dies ist das beste
Argument dafür. Aber selbst wenn wir von Kafkas Existenz sicher
wüssten, so bliebe uns doch sein Wille, auch seine Intention, vollkommen
dunkel, und ob er je etwas sagen wollte, muss im Reich bloßer
Spekulation verbleiben.
Der Text will also sagen, dass...; wäre dann die
zweite Stufe. Kann ein Text etwas wollen? Eher nicht: Der Text sagt,
und zwar mir, nur mir, dem einzigen Leser, dass..., und er sagt dies
nicht im Sinne einer Idee, im Gestus einer Verkündung, die er mir
mitzuteilen hätte, sondern er sagt es mir nur in mir, genauer,
ich sage mir, dass der Text sagt, dass... Der Text entsteht als Text
bei der Lektüre, zumindest entsteht er dort neu. Aber er entsteht
nicht als der Text, der er ein für allemal ist, er entsteht
lediglich als Text, den ich lese - und ob ich ihn als Text, der er ein
für allemal ist, lese oder nicht, hat mit ihm nur mittelbar zu
tun.
Unter diesen Voraussetzungen zurück zum Text, der
dann sagt, dass die gesellschaftlich tolerierte Moralvorstellung Kommunikation
verhindern, verunmöglichen kann, wenigstens aber vor die Entscheidung
stellt: eigentlich kommunizieren oder gut sein.
Georg Bendemann entscheidet sich für die zweite Lösung.
Damit ist ein Thema, eine Problematisierung ausgemacht und es kann sich
lohnen/nicht lohnen, es weiter im Text zu verfolgen. Wenn der Text,
wie wir es von jedem Text erwarten oder zumindest erhoffen - eine gewisse
Stringenz aufweist und wenn die bisherigen Überlegungen dem Text
irgendwie gerecht geworden sind, dann wäre eine Vertiefung der
Thematik, eine Erweiterung der Problematisierung zu erwarten. Sollte
dies freilich nicht der Fall sein, dann hieße das, von neuem zu
beginnen, um einen neuen Gesichtspunkt herauszufiltern, denn entweder
war die bisherige Analyse verfehlt oder der Text war nicht
stringent, er war dann schlecht, oder aber es handelt sich um einen
Text, der bewusst auf Stringenz verzichtet. Sollte letztlich, trotz
guter Arbeit, kein Gesichtspunkt herausfilterbar sein, der sich im Verlauf
bestätigen würde, dann wäre dieser (kein Gesichtspunkt)
als Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen.
Auch wenn Bendemann das sprachliche Dilemma löst,
indem er sich vor allem der moralischen Aufgabe verpflichtet fühlt,
macht er auf ein grundsätzlicheres Dilemma aufmerksam: die Unmöglichkeit
zu Kommunizieren, trotz des Zwanges, Kommunikation zu machen, der Ausschluss
des Eigentlichen, trotz des Zwanges, eigentlich zu müssen. Als
moralischer Mensch, wie wir ihn bereits kennen gelernt haben, tut er
dies aus vorausschauender Rücksicht, denn es sind die Befindlichkeiten
des Freundes, die er bei seiner Entscheidung bedenkt. Diese ergeben
sich aus dem Begriff des Selbst, des Selbstbewusstseins,
mithin der Person, deren Rechte nicht zu verletzen sind,
oder, falls man sie verletzen muss, die zu schonen sind. Wenn Georg
die Persönlichkeitsrechte, das Selbst-Bewusstsein seines Freundes
wahren will, dann darf er, innerhalb der anerkannten Konventionen, die
eigentlichen Dinge nicht schreiben, die da sind: der eigene wirtschaftliche
Erfolg und die eigene Verlobung. Er geht davon aus, dass diese erfreulichen
Nachrichten den Freund in weniger günstiger Lage, kränken
oder beschämen könnten. Nachrichten dieser Art könnten
also nur dann nicht verletzen, wenn es keine Differenz der Befindlichkeiten
gäbe. Diesen Konflikt hätte Georg nur dadurch umgehen können,
dass er von Beginn an, vom ersten Moment an, im ersten Moment, offen
gewesen wäre. Aber Georg hatte keine Lust gehabt, dem Freund
von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und hätte
er es nachträglich getan, es hätte wirklich einen merkwürdigen
Anschein gehabt. Es ist dies eine Art von Versäumnis, wie
es wohl jeder Leser leicht nachvollziehen kann.
Georgs Verhältnis zu dem Freund wird von ihm selbst
als Freundschaft bezeichnet, aber Freundschaft verlangt
eigentlich Offenheit und Akzeptanz für den anderen. Als
Georg dies bewusst wird, als er den idealen Wert der Freundschaft erinnert
hielt er es wirklich für unverfänglich, dem Freund alles
zu schreiben. Gemessen an diesem Wert stellt er vollkommen zu
recht fest: So bin ich und so hat er mich hinzunehmen, ich kann
nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht für
die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin.
Nun scheint der Text aber sein Thema gewechselt zu haben, das Kommunikationsproblem
wurde gegen die Problematisierung der Kategorie Freundschaft
getauscht, jedoch könnte der Verlauf zeigen, dass beides zusammengehört.
Der Begriff der Freundschaft bezeichnet eine Beziehung zwischen Menschen,
aber er ist nicht streng definiert, denn er kann offenbar vieles umfassen:
sowohl die Rücksicht auf die Befindlichkeit des Selbst des anderen
als auch die gnadenlose Offenheit des so bin ich eben!.
Was also ist Freundschaft? Es ist etwas, was es (an sich) nicht gibt,
es ist ein imaginärer Begriff, besser, ein Begriff, der einem imaginären
Etwas den Schein der Realität anhängt, der letztlich nur so
lange Bestand hat, wie man ihn bestehen lassen will; er ist imaginativ.
Eine Beziehungsform zwischen Menschen, die fast alles und fast nichts
sein kann, wird von diesen selbst Freundschaft genannt.
Und dieser imaginative Begriff, diese Beziehung, die kein an sich beanspruchen
kann, stellt Forderungen, erweckt Erwartungen. Und als wollte uns der
Text die Richtigkeit dieser Bedenken bestätigen, wird dasselbe
Problem noch einmal vorexerziert anhand des Begriffes Verlobung,
der ebenfalls eine zwischenmenschliche Beziehungsform, ein besonderes
Korrespondenzverhältnis benennt und der hier nicht mit dem
juristischen Akt zu verwechseln ist, sondern das sich Verloben, Geloben,
meint. Georgs Verlobte fordert ihre Rechte regelrecht ein: ...
und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen zu lernen,
sagt sie. Natürlich kann - darin liegt die Crux - Verlobung auch
anders definiert werden, kann es auch Formen von Verlobung geben, die
ein solches Recht nicht einbegreifen, aber da Georg die Forderung seiner
Verlobten akzeptiert, sich die beiden über den (ihren) Begriff
der Verlobung offensichtlich einig sind, scheint diese in der Tat berechtigt
zu sein. Ihre Konsequenz ist schreckenerregend, aber notwendig, um die
Problematik der imaginativen Begriffe vollends zu entwickeln: sie stellt
den Begriff der Verlobung rückschließend selbst in Frage,
indem sie auf Vollständigkeit beharrt: Wenn du solche Freunde
hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.
Der Begriff der Verlobung, der dieses menschliche Verhältnis umfassen
soll, stößt hier nicht nur an seine eigenen Grenzen, sondern
er kollidiert auch mit einem anderen imaginativen Begriff für eine
menschliche Beziehung, mit dem der Freundschaft. Allerdings nicht eigentlich,
denn idealerweise müssten beide Begriffe friedlich koexistieren
können, was wiederum nur dann funktionieren kann, wenn sie von
Beginn an in Reinform genutzt werden. Allein Georgs Unlust jedoch hat
dies schon verhindert. Der Text entwickelt hier das Dilemma der einmal
verunmöglichten Kommunikation, die jede weitere verhindert und
permanent mit imaginären Begriffen, wie Freundschaft und Verlobung,
kollidiert.
Scheinbar vermag Georg die Konflikte noch auszugleichen,
indem er den Freund, entsprechend der Idealform von Freundschaft, an
seinem Glück teilhaben lässt, indem er also paradoxerweise
den Konflikt verschärft, tatsächlich jedoch nur in die Eigentlichkeit
ausweicht. Er schreibt: Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum
Schluss aufgespart. Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld
verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie ... Es wird
sich noch Gelegenheit finden, Dir Näheres über meine Braut
mitzuteilen, heute genüge Dir, dass ich recht glücklich bin
und dass sich in unserem gegenseitigen Verhältnis nur insofern
etwas geändert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gewöhnlichen
Freundes einen glücklichen Freund haben wirst. Außerdem bekommst
Du in meiner Braut, die Dich herzlich grüßen lässt,
und die Dir nächstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin,
was für einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist.
Und er sieht sogar die Möglichkeit (Flucht in die Eigentlichkeit),
der Forderung seiner Verlobten gerecht zu werden, wenn er fortfährt:
Ich weiß, es hält Dich vielerlei von einem Besuche
bei uns zurück, wäre aber nicht gerade die Hochzeit die richtige
Gelegenheit, einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen?
Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle Rücksicht und nur
nach Deiner Wohlmeinung.
Mit diesem Brief geht Georg zum Vater. Die Geschichte
nimmt hier eine überraschende Wendung, und wenn viele Kommentare,
besonders jene, die sich einen psychologischen Schlüssel zurechtgelegt
haben, glauben, nun auf die Rolle des Vaters im allgemeinen (Gottvater,
Kastrationsangst...) und bei Kafka im besonderen (Tyrannenrolle, Brief
an den Vater...) verweisen zu müssen, so muss uns das nicht
stören, denn wir wissen (nicht mehr) weder, was die psychologischen
Modelle zur Rolle des Vaters - die im übrigen unbestritten ist
- sind, noch wie die Biographie eines gewissen Kafka sich liest. Man
kann die Geschichte so aufnehmen, als fände man sie am einsamen
Strand angeschwemmt, als Flaschenpost, ohne Autorangabe, ohne Zeit,
ohne Ort.
Gleich zu Beginn ist zu erfahren, dass die Beziehung zum
Vater wesentlich geschäftlich (geworden) ist, denn Georg
verkehrte mit seinem Vater ständig im Geschäft. Trotzdem
mag es den Leser selbst noch erstaunen, wenn Georg über die Dunkelheit
des väterlichen Zimmers staunt, das er seit Monaten schon nicht
betreten hatte. Um des Briefes willen tut er dies und da bislang keine
Nötigung dazu bestand, so bleibt nichts anderes übrig
als festzustellen, dass die Mitteilung über den Inhalt des Briefes
eben eine Nötigung darstellt. Der Text hätte auch lauten können:
Es bestand auch sonst keine Notwendigkeit dazu, aber es
ist von Nötigung die Rede. Natürlich schließt die Nötigung
die Notwendigkeit durchaus mit ein, aber eben auch die Not, auch den
Zwang, die Macht. Worin freilich die Nötigung besteht, darüber
scheint der Text keinen Aufschluss zu geben und wir sollten anerkennen,
dass es etwas Verschweigenswertes gibt (bevor wir uns auf willkürliche
Assoziationen und Spekulationen einlassen). Wüsste man nachfolgend
nicht, wer zu wem spricht, man müsste den Sohn mit dem Vater verwechseln.
Zwar ist der Vater noch immer ein Riese, wie Georg zu sich
spricht, mithin also kräftig, stark, groß, mächtig,
aber wie er die Dunkelheit, die schlechte Durchlüftung des Zimmers
anspricht, deutet das auf ein umgekehrtes Verhältnis hin. Er behandelt
den Vater wie ein Kind. Er wolle eigentlich - man beachte dieses eigentlich
- nur sagen, dass er nun doch die Verlobung nach Petersburg angezeigt
habe. Die lässige, marginale Geste, die der Text beschreibt, scheint
noch einmal die Konstellation festhalten zu wollen. Er zog den
Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.
Auf die interessierte Nachfrage erläutert Georg noch einmal seine
Beweggründe. Er schließt ab: Ehe ich jedoch den Brief
einwarf, wollte ich es dir sagen.
Etwas stimmt an diesem Satz nicht. Die Zeitform. Georg
spricht so, als hätte er den Brief schon eingeworfen, als würde
er das Gespräch erinnern, aber der Brief ist noch in seiner Tasche
- gerade eben haben wir ihn noch gesehen - und er sagt es auch gerade
erst. Nehmen wir an, es handelt sich um einen guten, einen literarisch
wertvollen Text, schließen wir damit also aus, dass es sich um
einen banalen Fehler, eine Schlamperei des Autors handelt, der im übrigen
stets um größtmögliche sprachliche Akkuratesse peinlichst
bemüht war, dann müssen wir sagen, dass dieser Satz entweder
nicht richtig, ein Fehler Bendemanns oder nicht wahr ist, oder aber
ohne (offensichtlichen) Sinn. Dieser seltsame Satz lässt sich freilich
auch anders befragen, indem wir ihn lesen, wie er ist, indem wir ihn
bejahen: dann stellte sich nämlich die Frage, in welcher Zeit wir
uns befinden. In der Zeit des reinen Ereignisses, in der Zeit des Äons,
wo sich immer schon alles ereignet hat (Georgs Rede) und immer erst
alles ereignen wird (Georgs Absicht). Was sich ereignen wird, bringt
Georg in die Sprachform dessen, was sich bereits ereignet hat und damit
nabelt er das normale Zeitverständnis, das danach fragt,
was sich gerade ereignet, was ist (gewesen ist, ist, sein wird),
aus. Gerade diesen Moment, den Augenblick, das Jetzt, schließt
der Äon aus, er ist die leere Stelle dieser ewigen Wahrheit
der Zeit (Deleuze). Hinter den Oberflächen hätte der
Satz dann einen paradoxen Sinn, der dem Paradox des Zenon, dass der
fliegende Pfeil seinem Ziel entgegenruht, vergleichbar wäre. Zeit,
Wirklichkeit und Präsenz - als Begriffe, nicht als Entitäten
- wären somit, unterhalb der reinen Sprachoberfläche befragt
[1]. Später wird uns ein anderer Satz vor ein ähnliches Problem
stellen.
Die Reaktion des Vaters überrascht, denn seine nun
folgende Rede, die mehr andeutet als erhellt, scheint mit Georgs Problem
nichts zu tun zu haben, Ursache und Wirkung wollen nicht recht korrespondieren.
Er fordert, dass er ihm die volle Wahrheit sagen, ihn nicht
täuschen solle in dieser Kleinigkeit, die des Atems
nicht wert sei: Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?
Weshalb sollte Georg ihn nicht haben? Bislang lässt der Text keinerlei
Zweifel an der Aufrichtigkeit von Georgs Gedankengängen zu. Weshalb
der Redeaufwand, weshalb die starke Forderung nach der vollen
Wahrheit, wenn es doch nur um diese Kleinigkeit geht?
Inhalt und Form, Aussage und Gestus stehen plötzlich vollkommen
unverhältnismäßig sich gegenüber. Georg reagiert
verlegen. Weshalb? Sollte ihn tatsächlich die Einforderung der
vollen Wahrheit getroffen haben, hat er die Wahrheit, oder,
wie die väterliche Forderung vermuten ließe, einen Teil der
Wahrheit verschwiegen? Stört ihn das unerwartete Benehmen des Vaters?
Was ist Wahrheit? - diese Frage begleitet das abendländische
Denken seit seinem Gründungsdokument. Ist Wahrheit teilbar? Dies
sind die Fragen, die der Text nun aufwirft. Die Frage des Pilatus trägt
als rhetorische Frage ihre Antwort seit je schon mit sich: auch Wahrheit
ist ein imaginativer Begriff. Wahr ist - selbst diese Wahrheit -, was
man für wahr hält. Wer aber ist hier man? Es ist
der Inhaber der Macht (Pilatus) und wer diese besitzt, der
verfügt auch über die Wahrheit und über ihre Infragestellung.
Aber mit dem Wechsel der Macht, wechselt auch die Wahrheit, die dann
offenbart: die Wahrheit ist eine Fiktion, wie auch die Fiktion eine
ist. Als scheine Georg diese Ausmaße zu ahnen, verlagert er den
unangenehmen Disput fast unmerklich in den Bereich der Macht: Lassen
wir meine Freunde (sic!) sein., heißt dann: lassen wir die
Fragen nach der Wahrheit sein und klären wir - mit List: tausend
Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater - die Machtfrage. Entkleidet
man den Vorschlag, eine andere Lebensweise für den
Vater einzuführen, den Arzt zu holen und seinen Vorschriften
zu folgen, das Zimmer zu wechseln, von ihrem vordergründigen
humanen Gehalt, dann kann man dahinter den Versuch der Kanalisierung
der Macht des Vaters erblicken. Dass dies keine Veränderung für
den Vater sein wird, wie Georg versichert, ist schlichtweg nicht wahr
oder nur an der Oberfläche wahr, denn tatsächlich wird dann
die Macht des noch immer mächtigen Vaters gebrochen sein. Nicht
etwa, weil er ein anderes Zimmer bewohnt, sondern weil er sich dann
schon dem Willen des Sohnes gefügt hätte. Das Wissen davon
bestimmt, relativiert die Macht. Auch bei der Macht handelt es sich
um einen imaginativen Begriff, um etwas, das nicht existiert, sondern
in die Existenz gesetzt wird. [2] Es geht daher, entgegen landläufiger
Meinungen/Interpretationen nicht um die Macht und das Verhältnis
des Individuums zu ihr (Allmacht, Ohnmacht, politische Macht...), es
geht um deren Aufhebung im Imaginären. Der Redekampf ist durchaus
kein Machtkampf, sondern die reine Vortäuschung eines solchen,
es ist ein Sprechen in den Äon hinein, der die Macht und jeglichen
Disput über sie verschwinden lässt. Um es optimistischer zu
sagen: es ist damit zu rechnen, dass wir mit Hilfskategorien operieren,
Kategorien, die helfen Welt zu strukturieren, statt,
wie weitgehend angenommen wird, dass die Kategorien die Welt erklären,
aufklären, klären, durchleuchten könnten. Macht ist ein
Wahrnehmungsphänomen, eine funktionale Wahrnehmung, nicht anders
als die Wahrheit, die Freundschaft, die Verlobung, der Verkehr, die
Moral, das Selbst, das Bewusstsein, die Existenz, die Familie, das Leben,
die Person, das Subjekt...das Urteil.
Was nun an Auseinandersetzung folgt, ist wahrlich skurril:
das Ringen um die imaginäre Macht wird geführt mithilfe einer
imaginären Kommunikation, die nahezu vollkommen mißlingt.
Die Bezüge lösen sich auf. Da schon mag eine dunkle Ahnung
in Georg aufsteigen, fängt die Welt um ihn herum zu verschwimmen
an, und er beginnt, sich zu klammern. Auf seinen Armen trägt er
den Vater ins Bett und fragt ihn: Nicht wahr - er sagt:
nicht wahr -, du erinnerst dich schon an ihn?,
den Freund und also die Freundschaft. Der Vater antwortet nicht - vorerst
- sondern fragt scheinbar zusammenhanglos, als wäre er senil, als
wäre Georgs Sorge um den Zustand des Vaters berechtigt: Bin
ich zugedeckt? Georg ergreift die Chance der Deeskalation, die
sich scheinbar bietet, er versucht den Vater zu besänftigen: Sei
nur ruhig, du bist gut zugedeckt. Nein!, rief der Vater.
... Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen,
aber zugedeckt bin ich noch nicht., als wollte er rufen: Noch
tue ich, was ich, nicht was du willst (und wir tun gut daran, auch an
dieser Stelle uns allzu aufdrängenden Bildern, Bedeutungen - etwa,
daß es hier um die Beerdigung, um das Begraben ginge -, zu verweigern).
Denn: Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel
für dich. Hier nun kulminiert der Machtkampf
(den wir aus kommunikationsheuristischen, helfenden Gründen noch
immer so nennen müssen) und schlägt um zu Georgs Ungunsten.
Was folgt, ist die Destruktion des Sohnes, das Mittel dazu ist das stärkste,
das man sich nur denken kann: die Zerstörung der Kategorien, der
Beweis ihres imaginären Gehalts, ihrer eigentlichen Inexistenz.
Mit der Aussage Wohl (sic!) kenne ich deinen Freund zerfällt
der Begriff der Freundschaft endgültig und spätestens jetzt
wird klar, daß die Bestreitung der Existenz des Freundes
gar nicht den Freund, sondern die Existenz in Frage stellt. Dann
folgt die Verlobung, die Beziehung, der Verkehr, die Liebe und mit ihr
der andere: Weil sie die Röcke gehoben hat, fing
der Vater zu flöten an, weil sie die Röcke so gehoben
hat, die widerliche Gans ... weil sie die Röcke so und so und so
gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne
Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken
geschändet.... Dabei strahlte er vor Einsicht
(=Evidenz). ...Komödiant! konnte sich Georg zu
rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und biß, nur
zu spät, - die Augen erstarrt - in seine Zunge, daß er vor
Schmerz einknickte. Man muß nun nicht annehmen, der Schaden,
den er erkannte, sei die Beschimpfung des Vaters als Komödiant
gewesen, und der Biß auf die Zunge würde den Schmerz erzeugen,
der ihn fast umwarf, vielmehr dürfte die Komödie selbst der
Schaden sein. Komödie ist der Begriff, der Georg fassen
läßt, daß dies alles nur Schauspiel, Schein, Imagination
ist. Nicht etwa die Szene mit dem Vater, nein, sprichwörtlich alles,
alles ist Schein, alles ist nicht [3]. Deswegen ist es ein gutes
Wort, weil es erfaßt, daß es nichts zu erfassen, sondern
nur aufzufassen gibt und weil es das Prozessuale verdeutlicht, daß
es sich um ein Werden und ein Funktionieren handelt, statt um ein Sein
und Bedeuten. Mit des Vaters Worten bricht der Unsinn herein - panisch
- und negiert eine sinnvolle, strukturierte Welt. Dabei geschieht nichts
Unmögliches, eher ist es wahrscheinlich, daß der Unsinn,
irgendwann, den Sinn, der auf dem Unsinn basiert, ad absurdum führt.
Jedes System, auch das Sprach- und Sinnsystem besitzt einen Ort, eine
Stelle, an dem es, wenn er berührt wird, zerbrechen muß,
der es kollabieren läßt. Die Worte des Vaters berühren
diesen Ort, die Reflexzone der Existenz in Georgs System,
in Georgs Leben. Er begreift, daß seine Welt damit verschwunden
ist, sie besteht aus Begriffen, die benennen, was es nicht gibt. Die
Welt wird bodenlos und selbst die letzte Hoffnung, die ewigen Zahlen
erweisen sich als Traum, selbst sie können kein Anker sein, denn
auch sie gibt es nicht: Er, der Freund, weiß
alles tausendmal besser, rief der Vater. Zehntausendmal!
sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam
das Wort einen todernsten Klang. Da vergeht ihm das Lachen. Bereits
in diesem Moment - der todernste Klang läßt aufhorchen -
schon in diesem Moment fällt das Todesurteil, hier schon beginnt
Georg zu sterben, hier begreift er, daß er sterben muß.
Er verurteilt sich selbst. Das Todesurteil liegt in der Konsequenz der
Sache. Deswegen ist dem Vater nur zuzustimmen, wenn er auf Georgs schwaches
Aufbäumen: Du hast mir also aufgelauert mitleidig und
nebenbei sagt: Das wolltest du wahrscheinlich früher sagen.
Jetzt paßt es ja gar nicht mehr. Es paßt tatsächlich
nicht mehr. Und um Georg endgültig begreiflich zu machen, um sein
allzumenschliches Zögern zu beenden, fährt er lauter fort:
Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher
wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich,
aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!. Die doppelte
Eigentlichkeit, die zudem gesteigert wird, spricht Bände, aber
Bände könnten sie nicht begreiflich manchen. Worum es geht,
ist nicht das Unaussprechbare, um das die moderne Literatur seit je
ringt - unsagbar, unbeschreiblich schon, was den Vater treibt -, sondern
die Unaussprechbarkeit des Unaussprechbaren und wenn das einmal verstanden
ist, dann wird unmittelbar evident, daß hier kein Schreiben, keine
Sprache mehr dient. Das Imaginäre ist zugleich das Unsagbare und
eben weil wir es so nennen, bleibt es selbst unsagbar. Daß es
benannt wird, ausgesprochen wird, garantiert seine Unsagbarkeit. [4] Wir
wissen nicht, was Macht ist - die es zweifellos gibt -, weil wir sie
als Macht begreifen, weil wir dieses Etwas Macht nennen.
Das Etwas, das vom Sagbaren verborgen und verschleiert wird,
ist nicht sagbar, wohl aber erlebbar. Der Schein trügt auch hier;
kein Nihilismus schafft sich da Raum, sondern das Etwas,
von dem wir zwar nicht wissen, was es ist, das jedoch - in dieser Geschichte
von Georg durch seine Selbstnegation - bestätigt bleibt. Dieses
existentielle Evidenzerlebnis ist nicht zu (be)schreiben, weshalb auch
eine theoretische Abhandlung (vgl. Fußnote) und eine Erzählung
nicht taugt, sondern nur eine Geschichte, sofern diese nicht erzählt
wird, sondern eine ist, besser noch: eine wird, im Werden
ist, d.h. mit anderen Worten, sie wird uns nicht erzählt, wir wohnen
ihr bei, sie ist nicht das verwirklichte Ereignis, sie ist das Ereignis-Werden.
Aber selbst die kann nur die Unsagbarkeit begreiflich machen, nicht
das Erlebnis selbst. Dieses findet sich ein, in unerwarteten
Momenten, jenseits aller Ereignisse. Sprache muss hier kollabieren:
Und dann wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!.
Jetzt! Zum Tode des Ertrinkens! Das auch das Urteil, jedes Urteil, imaginär
ist, muss nun - nach allem - nicht weiter betont werden, aber dass dieses
Urteil - zum Tode des Ertrinkens - sich selbst als imaginäres
bezeichnet, muss Georg, dessen Welt bereits verschwunden ist und dessen
Sprache hiermit verschwindet, den letzten Schlag verpassen. Um die Welt
richtig sehen, um dies zumindest hoffen zu können, muss er diese
Kategorien und ihren imaginären Gehalt überwinden. Nachdem
alles verschwand, muss Georg sich selbst bestätigen, in der letzten
vermeintlichen Gewissheit, die sich freilich auch als Imagination erweisen
könnte - im Tod. Im Tod gibt es Knechtschaft, im Tod gibt es alles.
Ob er sich dort wiederfindet oder selbst verliert, bleibt unhinterfragbar.
Anhang
EINE GESCHICHTE VON FRANZ KAFKA
für Fräulein Felice B.
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr.
Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer
im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die
entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe
und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen
Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloss
ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den
Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluss, die Brücke
und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.
Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem
Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Russland sich
förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft
in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem
aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer seltener
werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos
ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren
wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde
Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzählte, hatte er keine rechte
Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast
keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete
sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein.
Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich
offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen
konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen,
seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen
Beziehungen wieder aufzunehmen - wofür ja kein Hindernis bestand
- und im übrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete
aber nichts anderes, als dass man ihm gleichzeitig, je schonender, desto
kränkender, sagte, dass seine bisherigen Versuche misslungen seien,
dass er endlich von ihnen ablassen solle, dass er zurückkehren
und sich als ein für immer Zurückgekehrter von allen mit großen
Augen anstaunen lassen müsse, dass nur seine Freunde etwas verstünden
und dass er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen
Freunden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, dass alle
die Plage, die man ihm antun müsste, einen Zweck hätte? Vielleicht
gelang es nicht einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen - er
sagte ja selbst, dass er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr
verstünde - und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde,
verbittert durch die Ratschläge und den Freunden noch ein Stück
mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und würde hier
- natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen - niedergedrückt,
fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht,
litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und
keine Freunde mehr, war es da nicht viel besser für ihn, er blieb
in der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umständen
daran denken, dass er es hier tatsächlich vorwärts bringen
würde?
Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch
überhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine
eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten
Bekannten machen würde. Der Freund war nun schon über drei
Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklärte dies sehr notdürftig
mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Russland,
die demnach also auch die kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes
nicht zuließen, während hunderttausende Russen ruhig in der
Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade
für Georg vieles verändert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter,
der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem
alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl noch
erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedrückt,
die ihren Grund nur darin haben konnte, dass die Trauer über ein
solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte aber
Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Geschäft
mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte
ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, dass er im Geschäft
nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen
Tätigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der
Mutter, trotzdem er noch immer im Geschäfte arbeitete, zurückhaltender
geworden, vielleicht spielten - was sogar sehr wahrscheinlich war -
glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls
aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet
entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz
hatte sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos
bevor.
Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung.
Früher, zum letzten Mal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte
er Georg zur Auswanderung nach Russland überreden wollen und sich
über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig
in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenüber
dem Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg aber
hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen
zu schreiben, und hätte er es jetzt nachträglich getan, es
hätte wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.
So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer
nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben, wie sie sich,
wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet
aufhäufen. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört
lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit
wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es
Georg, dass er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen
mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich
weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings
der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese Merkwürdigkeit
zu interessieren begann.
Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als dass
er zugestanden hätte, dass er selbst vor einem Monat mit einem
Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender
Familie, sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut über
diesen Freund und das besondere Korrespondenzverhältnis, in welchem
er zu ihm stand. »Da wird er gar nicht zu unserer Hochzeit kommen«,
sagte sie, »und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen
zu lernen.« »Ich will ihn nicht stören«, antwortete
Georg, »verstehe mich recht, er würde wahrscheinlich kommen,
wenigstens glaube ich es, aber er würde sich gezwungen und geschädigt
fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfähig,
diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurückfahren.
Allein - weißt du, was das ist?« »Ja, kann er denn
von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?« »Das
kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise
unwahrscheinlich.« »Wenn du solche Freunde hast, Georg,
hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.« »Ja,
das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders
haben.« Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen Küssen,
noch vorbrachte: »Eigentlich kränkt es mich doch«,
hielt er es wirklich für unverfänglich, dem Freund alles zu
schreiben. »So bin ich und so hat er mich hinzunehmen«,
sagte er sich, »Ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden,
der vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre,
als ich es bin.«
Und tatsächlich berichtete er seinem Freunde in dem
langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte
Verlobung mit folgenden Worten: »Die beste Neuigkeit habe ich
mir bis zum Schluss aufgespart. Ich habe mich mit einem Fräulein
Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden
Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat,
die Du also kaum kennen dürftest. Es wird sich noch Gelegenheit
finden, Dir Näheres über meine Braut mitzuteilen, heute genüge
Dir, dass ich recht glücklich bin und dass sich in unserem gegenseitigen
Verhältnis nur insoferne etwas geändert hat, als Du jetzt
in mir statt eines ganz gewöhnlichen Freundes einen glücklichen
Freund haben wirst. Außerdem bekommst Du in meiner Braut, die
Dich herzlich grüßen lässt, und die Dir nächstens
selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was für einen
Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiß, es hält
Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber
nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse
über den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle
ohne alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.«
Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht
dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten,
der ihn im Vorübergehen von der Gasse aus gegrüßt hatte,
hatte er kaum mit einem abwesenden Lächeln geantwortet.
Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus
seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters,
in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst
keine Nötigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater ständig
im Geschäft, das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus
ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben, doch saßen
sie dann meistens, wenn nicht Georg, wie es am häufigsten geschah,
mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte, noch ein
Weilchen, jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer.
Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des
Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten
warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob.
Der Vater saß beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen
Andenken an die selige Mutter ausgeschmückt war, und las die Zeitung,
die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche
auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks,
von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.
»Ah, Georg!« sagte der Vater und ging ihm
gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen,
die Enden umflatterten ihn - »mein Vater ist noch immer ein Riese«,
sagte sich Georg.
»Hier ist es ja unerträglich dunkel«,
sagte er dann.
»Ja, dunkel ist es schon«, antwortete der
Vater.
»Das Fenster hast du auch geschlossen?«
»Ich habe es lieber so.«
»Es ist ja ganz warm draußen«, sagte
Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich. Der Vater
räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen
Kasten.
»Ich wollte dir eigentlich nur sagen«, fuhr
Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte,
»dass ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.«
Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder
zurückfallen.
»Wieso nach Petersburg?« fragte der Vater.
»Meinem Freunde doch«, sagte Georg und suchte
des Vaters Augen. - »Im Geschäft ist er doch ganz anders«,
dachte er, »wie er hier breit sitzt und die Arme über der
Brust kreuzt.«
»Ja. Deinem Freunde«, sagte der Vater mit
Betonung.
»Du weißt doch, Vater, dass ich ihm meine
Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem
anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger
Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung
wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich
ist - das kann ich nicht hindern -, aber von mir selbst soll er es nun
einmal nicht erfahren.«
»Und jetzt hast du es dir wieder anders überlegt?«
fragte der Vater, legte die große Zeitung auf den Fensterbord
und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.
»Ja, jetzt habe ich es mir wieder überlegt.
Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine glückliche
Verlobung auch für ihn ein Glück. Und deshalb habe ich nicht
mehr gezögert, es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf,
wollte ich es dir sagen.«
»Georg«, sagte der Vater und zog den zahnlosen
Mund in die Breite, »hör' einmal! Du bist wegen dieser Sache
zu mir gekommen, um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel.
Aber es ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn du mir jetzt
nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrühren,
die nicht hierher gehören. Seit dem Tode unserer teueren Mutter
sind gewisse unschöne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch
für sie die Zeit und vielleicht kommt sie früher, als wir
denken. Im Geschäft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht
nicht verborgen - ich will jetzt gar nicht die Annahme machen, dass
es mir verborgen wird -, ich bin nicht mehr kräftig genug, mein
Gedächtnis lässt nach, ich habe nicht mehr den Blick für
alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens
hat mich der Tod unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen
als dich. - Aber weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem
Brief, so bitte ich dich, Georg, täusche mich nicht. Es ist eine
Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht.
Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?«
Georg stand verlegen auf. »Lassen wir meine Freunde
sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weißt du,
was ich glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt
seine Rechte. Du bist mir im Geschäft unentbehrlich, das weißt
du ja sehr genau, aber wenn das Geschäft deine Gesundheit bedrohen
sollte, sperre ich es noch morgen für immer. Das geht nicht. Wir
müssen da eine andere Lebensweise für dich einführen.
Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel und im Wohnzimmer hättest
du schönes Licht. Du nippst vom Frühstück, statt dich
ordentlich zu stärken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster und die
Luft würde dir so gut tun. Nein, mein Vater! Ich werde den Arzt
holen und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer werden wir
wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es wird keine
Veränderung für dich sein, alles wird mit übertragen
werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins
Bett, du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim Ausziehn
helfen, du wirst sehn, ich kann es. Oder willst du gleich ins Vorderzimmer
gehn, dann legst du dich vorläufig in mein Bett. Das wäre
übrigens sehr vernünftig.«
Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit
dem struppigen weißen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.
»Georg«, sagte der Vater leise, ohne Bewegung.
Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die
Pupillen in dem müden Gesicht des Vaters übergroß in
den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.
»Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer
ein Spaßmacher gewesen und hast dich auch mir gegenüber nicht
zurückgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben!
Das kann ich gar nicht glauben.«
»Denk doch noch einmal nach, Vater«, sagte
Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach
dastand, den Schlafrock aus, »jetzt wird es bald drei Jahre her
sein, da war ja mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch,
dass du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich
ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß.
Ich konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund
hat seine Eigentümlichkeiten. Aber dann hast du dich doch auch
wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf,
dass du ihm zuhörtest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst,
musst du dich erinnern. Er erzählte damals unglaubliche Geschichten
von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschäftsreise
in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen
hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese
Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte
hie und da wiedererzählt.«
Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder
niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er über den Leinenunterhosen
trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht
besonders reinen Wäsche machte er sich Vorwürfe, den Vater
vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine Pflicht
gewesen, über den Wäschewechsel seines Vaters zu wachen. Er
hatte mit seiner Braut darüber, wie sie die Zukunft des Vaters
einrichten wollten, noch nicht ausdrücklich gesprochen, denn sie
hatten stillschweigend vorausgesetzt, dass der Vater allein in der alten
Wohnung bleiben würde. Doch jetzt entschloss er sich kurz mit aller
Bestimmtheit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen.
Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, dass die Pflege, die dort
dem Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könnte.
Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches
Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett
hin merkte, dass an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spiele.
Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an
dieser Uhrkette.
Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte
sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit über
die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.
»Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?«
fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.
»Bin ich jetzt gut zugedeckt?« fragte der
Vater, als könne er nicht nachschauen, ob die Füße genug
bedeckt seien.
»Es gefällt dir also schon im Bett«,
sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn.
»Bin ich gut zugedeckt?« fragte der Vater
noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.
»Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.«
»Nein!« rief der Vater, dass die Antwort an
die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, dass
sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht
im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. »Du wolltest
mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt
bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für
dich, zuviel für dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre
ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen
Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint?
Darum doch sperrst du dich in dein Bureau, niemand soll stören,
der Chef ist beschäftigt - nur damit du deine falschen Briefchen
nach Russland schreiben kannst. Aber den Vater muss glücklicherweise
niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt hast,
du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, dass du dich mit
deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da
hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!«
Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger
Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie
noch nie. Verloren im weiten Russland sah er ihn. An der Türe des
leeren, ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen den Trümmern
der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade
noch. Warum hatte er so weit wegfahren müssen!
»Aber schau mich an!« rief der Vater, und
Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen, stockte aber
in der Mitte des Weges.
»Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing
der Vater zu flöten an, »weil sie die Röcke so gehoben
hat, die widerliche Gans«, und er hob, um das darzustellen, sein
Hemd so hoch, dass man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen
Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und so gehoben
hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung
dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet,
den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich
nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?«
Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.
Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater.
Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen
genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten
her, von oben herab überrascht werden könne. Jetzt erinnerte
er sich wieder an den längst vergessenen Entschluss und vergaß
ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelöhr zieht.
»Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!«
rief der Vater, und sein hin- und herbewegter Zeigefinger bekräftigte
es. »Ich war sein Vertreter hier am Ort.«
»Komödiant!« konnte sich Georg zu rufen
nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und biss, nur zu spät,
- die Augen erstarrt - in seine Zunge, dass er vor Schmerz einknickte.
»Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! Komödie!
Gutes Wort! Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater?
Sag' - und für den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender
Sohn -, was blieb mir übrig, in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom
ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im Jubel
durch die Welt, schloss Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte,
überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater
mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst du,
ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?«
»Jetzt wird er sich vorbeugen«, dachte Georg,
»wenn er fiele und zerschmetterte!« Dieses Wort durchzischte
seinen Kopf.
Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich
nicht näherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.
»Bleib', wo du bist, ich brauche dich nicht! Du
denkst, du hast noch die Kraft, hierher zu kommen und hältst dich
bloß zurück, weil du so willst. Dass du dich nicht irrst!
Ich bin noch immer der viel Stärkere. Allein hätte ich vielleicht
zurückweichen müssen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft
abgegeben, mit deinem Freund habe ich mich herrlich verbunden, deine
Kundschaft habe ich hier in der Tasche!«
»Sogar im Hemd hat er Taschen!« sagte sich
Georg und glaubte, er könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen
Welt unmöglich machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn
immerfort vergaß er alles.
»Häng' dich nur in deine Braut ein und komm'
mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht
wie!«
Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater
nickte bloß, die Wahrheit dessen, was er sagte, beteuernd, in
Georgs Ecke hin.
»Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du
kamst und fragtest, ob du deinem Freund von der Verlobung schreiben
sollst. Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles!
Ich schrieb ihm doch, weil du vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzunehmen.
Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal
besser als du selbst, deine Briefe zerknüllt er ungelesen in der
linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich
vorhält!«
Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf.
»Er weiß alles tausendmal besser!« rief er.
»Zehntausendmal!« sagte Georg, um den Vater
zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen toternsten
Klang.
»Seit Jahren passe ich schon auf, dass du mit dieser
Frage kämest! Glaubst du, mich kümmert etwas anderes? Glaubst
du, ich lese Zeitungen? Da!« und er warf Georg ein Zeitungsblatt,
das irgendwie mit ins Bett getragen worden war, zu. Eine alte Zeitung,
mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen.
»Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden
bist! Die Mutter musste sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben,
der Freund geht zugrunde in seinem Russland, schon vor drei Jahren war
er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht.
Dafür hast du doch Augen!«
»Du hast mir also aufgelauert!« rief Georg.
Mitleidig sagte der Vater nebenbei: »Das wolltest
du wahrscheinlich früher sagen. Jetzt passt es ja gar nicht mehr.«
Und lauter: »Jetzt weißt du also, was es noch
außer dir gab, bisher wusstest du nur von dir! Ein unschuldiges
Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer
Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!«
Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag,
mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in
den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über
eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin,
die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen.
»Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze
das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über
die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer
fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als
der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner
Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden
Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen
Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde,
rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«,
und ließ sich hinfallen.
In diesem Augenblick ging über die Brücke ein
geradezu unendlicher Verkehr.
© Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und
darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter
verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Letzte Änderung
dieser Seite:
13.12.2022
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