Das Leib-Seele-Problem bei Nietzsche
Von den Hinterweltlern / Von den Verächtern des Leibes
von Jörg Seidel
Von den Hinterweltlern
Das sogenannte Leib-Seele-Problem kennzeichnet - als eines
von mehreren - den Beginn des westlichen, d.i. des europäischen
Denkens schlechthin und hat, wie alle großen Gedanken unserer
Geschichte, zwei Quellen: die griechisch-akademische Philosophie und
die jüdisch-christliche Religionstradition. Von daher bestimmt
sich die Bedeutung dieses Problems: wer es fundamental anzweifelt, wer
es verwirft oder gar seinen Problemcharakter in Frage stellt, statt
es zu modifizieren, rührt an den Grundfesten des westlichen Denkens,
seiner Kategorien und seiner Sprache.
Die erste systematische Ausarbeitung ist bei Sokrates-Platon
festzuhalten, wo Leib und Seele, stark vereinfacht, als Dualismus, als
dialektischer Antagonismus gedacht werden, die sich zwar in Form des
irdischen Lebens kurzzeitig vereinigen, ohne jedoch Eins zu werden.
Die Seele bewohnt den Leib für die Zeit des Lebens, oder anders
gesagt: menschliches Leben ist die Zeit in der die Seele den Leib bewohnt.
Sie hat ihre Heimstatt jedoch im transzendenten Reich der Ideen. Sie
ist im Leib eingesperrt und ist als dessen Gegensatz zu denken. Hier
verwirklicht sich das erste Axiom der Dialektik, der Kampf und die Einheit
der Gegensätze. Schon Aristoteles bemerkte die Schwierigkeit eines
solchen absolutistischen Dualismus und versuchte mit Hilfe von Abstufungen
und Hierarchien (unbelebte Materie, belebte Materie, Organismus und
Organ) zu vermitteln und modifizierte damit diesen Dualismus. Bei ihm
gilt die Seele als eine "Form" des Leibes.
Wirklich verworfen hat ihn nur Platons eigentlicher Gegenspieler,
der Kyniker Diogenes von Sinope, der eine Einheit von Leib und Seele
lebte und damit schon in der Diskursart einen anderen Weg ging.
(vgl. Diogenes Laertius)
Beeinflußt vom griechischen Denken entwickelte sich
ein vergleichbarer Gedanke im Judentum - "daß der Mensch
nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem was aus dem Mund des HERRN
geht" (5.Mo 8.3) -, der in Christus und im Christentum kulminiert.
Auch hier wird der Leib als untrennbarer Gegensatz der Seele gedacht,
die das Eigentliche sei, denn auch sie hat ihre Wohnstatt im Jenseits.
Der Geist wiederum wird als zwiefacher vorgestellt: der Geist des Menschen
und der Geist Gottes, der Heilige Geist. Neu daran ist das Glaubensverdikt,
das zwar strukturell bei Platon schon sichtbar war, dort allerdings
als Erkenntnisverdikt. Die platonische Seele mußte ihr Herkommen
und Hingehen erkennen, erinnern, die christliche Seele muß daran
glauben. Von ihr zu wissen und nicht daran zu glauben, ist Sünde,
führt zur Verweigerung der Glückseligkeitsverheißung
im Reich Gottes, welche nach dem individuellen Tode einsetzt. Der Körper
gilt hier als Schwachpunkt, als diabolischer Verführer, der eher
zu negieren sei, als sich ihm zu ergeben. Das ist der Sinn der Worte
Jesu: "Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt,
so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich,
daß eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die
Hölle geworfen werde. Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt,
so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, daß
eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle
fahre" (Mt.5.29ff.) und "Wenn aber deine Hand oder dein Fuß
dich zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es
ist besser für dich, daß du lahm und verkrüppelt zum
Leben eingehst, als daß du zwei Hände oder zwei Füße
hast und wirst in das ewige Feuer geworfen" (Mt.18.8)
Beide Strömungen wurden im Neuplatonismus als vereinbar
gedacht und es ist kein Zufall, daß beide westliche Großreiche
durch Utopien und Eschatologien gekennzeichnet sind.
Erst als die platonisch-christliche Denkart zum Pantheismus
fand, der Gott und Natur zusammen denkt, war es möglich, den Körper
und seine Affekte als Teil der Natur zu begreifen. Es war Spinoza, in
dessen Denken erstmals wieder erahnt wurde, was Nietzsche, der Spinoza
wie weniges gut kannte, später aussprechen wird: "Viele die
über die Affekte und über die Lebensweise der Menschen geschrieben
haben, scheinen nicht von natürlichen Dingen zu reden, welche den
allgemeinen Naturgesetzen folgen, sondern von Dingen außerhalb
der Natur."; "Was freilich der Körper alles vermag, hat
bis jetzt noch niemand festgestellt; d.h., niemand hat sich bis jetzt
auf dem Wege der Erfahrung darüber unterrichtet, was der Körper
nach den bloßen Gesetzen der Natur, sofern sie nur als eine körperliche
betrachtet wird, tun kann und was er nicht tun kann, wenn er nicht vom
Geiste dazu bestimmt wird."; "Es weiß ferner niemand
anzugeben, auf welche Weise und mit welchen Mitteln der Geist den Körper
bewegt, noch auch, wieviel Grade der Bewegung er dem Körper mitteilen
könne und wie groß die Schnelligkeit ist, mit welcher er
ihn zu bewegen vermöge."; "Somit lehrt die Erfahrung
selbst nicht minder deutlich als die Vernunft, daß die Menschen
nur darum glauben, sie wären frei, weil sie ihrer Handlungen bewußt,
der Ursachen aber, von denen sie bestimmt werden, unkundig sind."
(Ethik III, 1 und 2).
Populärer ausgedrückt findet sich ein ähnlicher
Gedanke bei Heinrich Heine, den Nietzsche nicht zufällig für
"ein europäisches Ereignis" hielt und von dem er als
Lyriker und Denker "einen ganz hohen Begriff" hatte. Heines
Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Spiritualismus und Sensualismus
und zwar in ganz eigenem Sinn: "Den Namen Spiritualismus überlassen
wir daher jener frevelhaften Anmaßung des Geistes, der, nach alleiniger
Verherrlichung strebend, die Materie zu zertreten, wenigstens zu fletrieren
sucht; und den Namen Sensualismus überlassen wir jener Opposition,
die, dagegen eifernd, ein Rehabilitieren der Materie bezweckt und den
Sinnen ihre Rechte vindiziert, ohne die Rechte des Geistes, ja nicht
einmal ohne die Suprematie des Geistes zu leugnen" (Zur Geschichte
der Religion und Philosophie in Deutschland).
Diese Impulse nimmt Nietzsche auf und transformiert sie
von der ontologischen auf die, nach seiner Sicht, höhere erkenntnistheoretische
Stufe. Schon dieser Gedanke ist ungewöhnlich aber vertretbar, wenn
man die Ontologie, die "Wissenschaft vom Sein", das "Sein"
als erkenntnisabhängiges Phänomen betrachtet, wenn also ein
Sein an sich nicht anerkannt wird. Zarathustras entscheidender Schritt
war es, nicht mehr "seinen Wahn jenseits des Menschen" geworfen
zu haben. Wahn ist nicht das Wahnsinnige, sondern das als Wahn erkannte
und das sind Erkenntnisse, Begriffe, Gott, Wahrnehmungen, Sprache...
und Wahrheit. Es ist hier schon zirkulär und es muß zirkulär
sein, wenn Zarathustra fragt: "jenseits des Menschen in Wahrheit?",
insofern Wahrheit zum einen als "Arbeitsbegriff" weiterverwendet
wird, andererseits als epistemologischer (erkenntnistheoretischer) Begriff
in Frage gestellt ist. Nicht anders Gott: "Mensch war er, und nur
ein armes Stück Mensch und Ich". Das heißt doch wohl
nichts anderes, als daß Gott sowohl Werk des Menschen - als historische
Summe - als auch des jeden Einzelnen ist, daß Gott also aus zweierlei
besteht: aus Konvention plus je individuelles Verständnis der Konvention
und das bedeutet, daß es Gott nicht gibt, nicht außerhalb
unserer Begriffe von ihm. Wie diese Erkenntnis zu erlangen ist, beschreibt
Zarathustra wie folgt: "Was geschah, meine Brüder?" -
es ist nur konsequent, wenn hier von einem "was", einem "es"
gesprochen wird - "Ich überwand mich". Nur die Überwindung
der Konvention und des Selbst führt zum Selbst, was nicht implementiert,
daß Zarathustra den Gott - als Konvention und individuelles Verständnis
- getötet hätte, wohl aber, daß er existentiell die
Umkehrung der Schöpfung begreift d.i. den Gedanken gedacht
und nicht nur gesagt zu haben. Selbst dieses Sich-Überwinden beruht
auf einem Unaufgeklärten, Unerklärlichen, auf einem unausdrückbaren
Etwas, auf diesem ominösen "es". Das heißt also,
daß etwas geschah, damit "Ich" mich überwinden
konnte. Dieses Etwas ist nun "verantwortlich" sowohl für
das Schaffen der Hinter-Welt als auch für deren Auflösung.
Daher diese Klimax: "Leiden war's und Unvermögen - das schuf
alle Hinterwelten; und jener kurze Wahnsinn des Glücks, den nur
der Leidendste erfährt.... Glaubt es mir, meine Brüder! Der
Leib war's...". Der Leib war's, der schuf alles Unvermögen
und er kann es auch nur sein, der dies ändert, nicht anders, als
es Zarathustra selbst sein muß, der die eigenen Werte umwertet:
"Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen,
was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten, der Name
Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit jenes
Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegenteil. Zarathustra
hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad
im Getriebe der Dinge gesehen, - die Übersetzung der Moral ins
Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk
Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra
schuf diesen verhängnisvollen Irrtum, die Moral: folglich
muß er auch der Erste sein, der ihn erkennt" (Ecce
Homo, KSA 6, 367).
Der Leib war es aber auch, der alles Vermögen schuf.
Um dies zu begreifen ist wiederum ein Glaube notwendig - "Glaubt
es mir, meine Brüder" - , aber es ist ein Glaube, der selbst
vom Leib hervorgebracht wurde, ein leibhaftiger Glaube, ein leiblicher
Glaube, der kein Glaube im religiösen Sinne mehr ist, auch nicht
sein kann. Es ist deswegen nur folgerichtig, wenn Zarathustra - entgegen
allen religiösen Gesten - statt zu Schülern, Jüngern,
Adepten, Schafen, Herden zu Gleichgesinnten und Gleichwertigen, zu Brüdern
spricht. Man sollte nicht denken, dies geschähe aus einer besonderen
Art von Menschlichkeit, sondern muß sehen, daß es sich hierbei
um ein nichtreligiöses Phänomen handelt.
Leib ist alles! So wie das Leben nur ein Teil, ein seltener
Teil des Toten ist, so sind Geist oder Seele oder Ich oder Selbst ein
seltener Teil des Körpers. Das wird im Bild des Kopfes noch am
Greifbarsten: "Und da wollte er mit dem Kopfe durch die letzten
Wände, und nicht nur mit dem Kopfe - hinüber zu 'jener Welt'".
was Zarathustra vermittelt ist die seit Platon tiefste Einsicht in die
körperliche, leibliche, physische Verfaßtheit aller Begriffe,
aller absoluten Begriffe, all jener Begriffe also, die einen Geist,
eine Seele oder deren ausführendes Organ, ein Hirn (oder eine Zirbeldrüse,
wie Descartes glaubte) haben. Zarathustra lehrt, daß dies Meta-Schöpfungen
sind, die unser gesamtes Denken und Wahrnehmen unauflösbar beeinträchtigt
haben, weil sie selbst Schöpfungen des Leibes sind. Dies ist ein
Grundgedanke Nietzsches seit der "Fröhlichen Wissenschaft"
und was wir danach sehen, sind Versuche, diesen Gedanken auszusprechen,
ihn zur Sprache zu bringen. Was als philosophischer Aphorismus begann,
wird im "Zarathustra" in der dionysischen Verkündergeste
wiederholt: "Die unbewußte Verkleidung physiologischer Bedürfnisse
unter die Mäntel des Objektiven Ideellen, Rein-Geistigen geht bis
zum Erschrecken weit - und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht,
im großen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine
Auslegung des Leibes und ein Mißverständnis des Leibes gewesen
ist. Hinter den höchsten Werturteilen, von denen bisher die Geschichte
des Gedankens geleitet wurde, liegen Mißverständnisse der
leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von einzelnen, sei es von
Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle jene kühnen Tollheiten
der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die Frage nach dem Wert
des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber
ansehn; und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen in
Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von Bedeutung
innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und Psychologen um so wertvollere
Winke, als Symptome, wie gesagt, des Leibes, seines Geratens und Mißratens,
seiner Fülle, Mächtigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte,
oder aber seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls
vom Ende, seines Willens zum Ende" (FW; KSA 3, 348f). Dies kann
nicht anders sein, denn "schwer zu beweisen ist alles Sein und
schwer zum Reden zu bringen". In der "Fröhlichen Wissenschaft"
setzt Nietzsche auf Erkenntnis und Einsicht, im "Zarathustra"
auf Evidenz, oder anders gesagt, er will diesen Gedanken gedacht sehen
und nicht nur ausgesprochen haben. Die Gewißheit, für spätere
Jahrhunderte geschrieben zu haben, ergibt sich eben aus diesem Gefühl,
vorerst nur gelesen, nicht gedacht zu werden. Denn es gilt, eine jahrtausendealte
Denktradition zu über-, zu verwinden, die dem Leib, jedem Leib,
die seelische Wunde schlug, in dem sie uns den Begriff vom "Wesen"
- und die unstillbare Sehnsucht, dies zu suchen - in Leib und Sprache
implantierte, tätowierte. Dabei ist der Leib doch selbst das "Wesen".
Das heißt, man muß Leib und Sprache überwinden um diesen
Gedanken fassen zu können oder "historisch" gesagt: vor
der Geschichte oder nach der Geschichte agieren.
Die Idee des "freien Willens", die Voraussetzung
alles moralischen Handelns ist - nicht im Sinne der Entscheidung Moral
versus Unmoral, Tugend versus Untugend, sondern Moral versus Amoral,
Moral versus Nichtmoral, Nichtexistenz von Moral - nur Konstrukt, wird
als Fiktion des Geistes, der wiederum Fiktion des Leibes ist, "entlarvt".
Es gibt "freien Willen" nicht an sich, sondern nur in der
Affirmation, im Wollen des Willens: "Einen neuen Willen lehre ich
die Menschen: diesen Weg wollen, den blindlings der Mensch gegangen,
und gut ihn heißen und nicht mehr von ihm beiseite schleichen,
gleich den Kranken und Absterbenden!" Affirmation meint die Bejahung
des Leibes, entspricht also dem Leib der sich selber will, sich selber
gut ist. Dies ist der gesunde Leib. Gesundheit ist aber kein moralischer
Wert, weswegen auch die Kranken und Absterbenden nicht be- oder gar
verurteilt werden. Sie sind einfach - als jeweils ein Resultat eines
Leibes, dem ein Seele und mit ihr das Elend eingeredet wurde. Zarathustra
leidet daran, aber er zürnt ihnen nicht, "denn sie wissen
nicht, was sie tun", jedoch nicht aus Unwissenheit, Verblendung,
Dummheit oder dergleichen, sondern weil es kein Wissen gibt. Dem Leib
ist derart nicht zu entgehen, die Leiblichkeit ist das Unhintergehbare
schlechthin, und selbst der Unglaube an den Leib ist noch dessen Emanation:
"Allzugut kenne ich diese Gottähnlichen: sie wollen, daß
an sie geglaubt werde, und Zweifel Sünde sei. Allzugut weiß
ich auch, woran sie selber am besten glauben. Wahrlich nicht an Hinterwelten
und erlösende Blutstropfen: sondern an den Leib glauben auch
sie am besten, und ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich".
Dieses Ding an sich, das es nicht gibt, ist der Leib selbst.
Von den Verächtern des Leibes
Im Kind treffen die beiden Tendenzen noch aufeinander,
denn "Unschuld ist das Kind und Vergessen und Neubeginnen",
aber ebenso Produkt fremder Seelen, kranker Leiber, vor allem aber ist
es Ausgeliefertsein. Das Kind muß unterscheiden was es noch nicht
unterscheiden kann: "Leib bin ich und Seele". Für
das Kind ist der Leib das Begreifbare, das Offensichtliche und die Seele
das Gelernte. Nietzsche spielt hier mit der Ambivalenz der Konjunktion
"und", die sowohl verbindet, als auch trennt, ausschließt.
Die Seele repräsentiert hier das Konditionierte und Gelernte. Sie
ist zum einen eine Abstraktion und als solche für ein Kind nicht
realisierbar, zum anderen ist es ein Wort und seit Sartre ("Der
Idiot der Familie" und "Die Wörter") weiß
man, was die Entwicklungspsychologie bestätigte, daß Kinder
bis zu einer gewissen Entwicklungsstufe nicht in der Lage sind, Worte
und Realität zu trennen, was zumindest an der Unfähigkeit
zu lügen deutlich wird. Der deformierte, im Marxschen Vokabular
[1] entfremdete Mensch, steckt hier zwischen den Zeilen, aber dies war eine
von Nietzsches frühesten Forderungen an seine Leser: "Ein
solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest,
er versteht noch das Geheimnis zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist
so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene
nachdenkt - vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen
gelegt hat. Und zwar nicht, um eine Rezension oder wieder ein Buch zu
schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Leichtsinniger Verschwender!"
(Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten; KSA 1, 762)
Erst der Erwachte kann sich Rechenschaft darüber
ablegen, was Leib und Seele "bedeuten" - er reflektiert. Das
unterscheidet seine "Erkenntnis" von der des Kindes: daß
sie reflexiv gewonnen wurde. Zarathustra ist der Erwachte, der Wissende,
der sagt: "Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem;
und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe".
Ambivalent ist auch der Begriff der Vernunft, der nun
ins Spiel gebracht wird. Ob dabei tatsächlich eine Aufklärungskritik
beinhaltet ist, lässt sich schwer sagen, aber es darf nicht der
Fehler gemacht werden, den Text Nietzsches in solchen Fragen aus dem
Blickwinkel der Spätgeborenen zu bewerten. Für uns ist es
gewohnt, die Aufklärung und ihr stärkstes Argument, die Vernunft,
explizit in Frage gestellt zu sehen, aber das will eher als ein späteres
Verdienst erscheinen (z.B. Horkheimer/Adorno), ohne frühere Leistungen
(de Sade, Romantik...) negieren und ohne abstreiten zu wollen, daß
Nietzsche Wegbereiter dieser Kritik war.
Vernunft wird in diesem Zusammenhang eher positiv gewendet,
aus einem einfachen Grund: um verständlich zu sein. Der Terminus
bezeichnet nicht die klassische Vernunft (als Vermögen der Ideenerkenntnis
und der Bildung metaphysischer Kategorien, als "oberes Erkenntnisvermögen"
(Kant)), sondern wird neu gefaßt. Schon die Trennung zwischen
großer und kleiner Vernunft ist ein Affront. "Große
Vernunft" ist eigentlich die Absenz der Vernunft oder die leibliche
Vernunft, die Vernunft des Leibes, der Leib selbst. Leib und "große
Vernunft" sind Synonyme, denn auch hier gilt: Leib ist alles! Aber
das ist nun kein Plädoyer für undifferenzierte Vermengung,
für einen primitiven Monismus, eine Verklumpung, sondern denkt
die Differenz mit: "Der Leib ist eine Vielheit" und er umfaßt
soviel, daß sogar Gegensätze in ihm vereinigt werden. "Krieg
und Frieden, Herde und Hirte". Aber eben nicht im dialektischen
Sinn!! Daran hängt alles. Es geht hier um Differenz, nicht um Gegensätze.
"Im Sein" - schrieb Deleuze - "gibt es Unterschiede,
aber nichts Negatives". Die Differenz zwischen Dialektik und Differenz
ist die Differenz selbst, d.h. Nietzsche negiert die Dialektik nicht
- dann wäre er selbst Dialektiker -, sondern differenziert sich
von ihr. Der Sinn der Differenz ist die Vielheit! und diese verkörpert
sich im Körper, im Leib. "Der Leib ist eine große Vernunft,
eine Vielheit mit einem Sinne..." Oder im Bild: er ist ein Organisches,
ein organisches Ganzes, (ein Rhizom), d.h. er ist trotz seiner Ganzheit
vollkommen differenzierungsfähig. Deswegen werden Geist und Seele
nicht negiert, sondern als Funktionen des Leibes begriffen, als Werkzeug
und Spielzeug, letztlich als Zeug: "Werkzeug deines Leibes ist
auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du "Geist" nennst,
ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft."
Nicht, daß es die Seele, Ich, Du oder Objektivität, Wahrheit
etc. nicht gäbe ist Nietzsches Aussage, schon weil er darüber
und mit ihnen spricht, sondern daß man all diese Dinge als Emanationen
des Leibes begreift und somit relativieren muß. Es sind, wie wir
sahen, Symptome des Leibes. Denken ist ein Symptom, schon Krankheitssymptom,
des Leibes und Philosophien sind Bekenntnisse des Körpers. Das
ist Paradox in einer Kultur, die Körper und Seele schon in ihren
Gründungsdokumenten strikt trennte und es kann daher nur paradox
innerhalb dieses Kulturkreises ausgedrückt werden. - wenn man es
denn ausdrücken will. Man könnte es auch ausleben, wie Diogenes.
Wenn Nietzsche sagt: "Der Leib ist begeistert, lassen wir die Seele
aus dem Spiel" (Ecce Homo, KSA 6, 341), dann wird das Paradoxon
sichtbar, denn noch immer ist vom Geist - in "begeistert"
- die Rede. Aber Nietzsche weiß um dieses Paradox, denn er fährt
fort: "Man hat mich oft tanzen sehen können..." Der Tanz
ist die kynische Geste schlechthin und eine andere Form, sich auszudrücken,
"der Tanz ist der Beweis der Wahrheit" (KSA 10, 65).
Welches sind die Mächte, die das "Denken",
also den Leib auf diesen Irrweg geführt haben? Es sind Nietzsches
große Feinde, die er so sehr geliebt haben muß: die Philosophie
in der platonisch-aristotelischen Tradition und das Christentum, personifiziert
in Sokrates und Jesus. Dionysos ist jene Figur, die sich von Beiden
unterscheidet und Diogenes derjenige Philosoph, der es am weitesten
brachte: "Cynismus ist das Höchste, was auf Erden erreicht
werden kann" (Jenseits; KSA 5, 44).
Liegen die Quellen so tief, dann muß von einer allgemeinen,
welthistorischen "Unterdrückung" des Leibes ausgegangen
werden. Nietzsches Begriff dafür ist "Askese", die in
der Genealogie der Moral eine Zentralstelle einnimmt: "...das asketische
Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung
gedient - er mußte es darstellen, um Philosoph sein zu können,
er mußte an dasselbe glauben, um es darstellen zu können.
Die eigentümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige,
entsittlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste
Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Philosophen-Attitüde
an sich Geltung gewonnen hat - sie ist vor allem eine Folge des
Notstandes von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entstand
und bestand: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie
auf Erden gar nicht möglich gewesen wäre ohne eine asketische
Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Mißverständnis.
(Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 360) und: "Von einem fernen Gestirn
aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins
zu dem Schluß verführen, die Erde sei der eigentlich asketische
Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger
Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde,
an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel wehtäten
als möglich, aus Vergnügen am Weh-tun - wahrscheinlich ihrem
einzigen Vergnügen. Erwägen wir doch, wie regelmäßig,
wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die
Erscheinung tritt; er gehört keiner einzelnen Rasse an; er gedeiht
überall; er wächst aus allen Ständen heraus. Nicht daß
er etwa seine Wertungsweise durch Vererbung züchtete und weiterpflanzte:
das Gegenteil ist der Fall - ein tiefer Instinkt verbietet ihm vielmehr,
ins große gerechnet, die Fortpflanzung. Es muß eine Nezessität
ersten Ranges sein, welche diese lebensfeindliche Spezies immer wieder
wachsen und gedeihen macht - es muß wohl ein Interesse des
Lebens selbst sein, daß ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs
nicht ausstirbt. Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch:
(Zur Genealogie der Moral; KSA 5, 363).
Auch hier geht es nicht gegen Personen, sondern Ursache
ist der "Wahn jenseits des Menschen", ist die "Erfindung"
des Jenseits, des Transzendenten. Dieses teleologische Denken, das auf
ein Gelobtes Land jenseits der "elenden Welt", elend gedachten
Welt, setzt, verhindert das Begreifen, daß das leibliche Leben,
das sinnliche Leben - das kein Epikuräismus, kein Hedonismus sein
soll -, im Hier und Jetzt für wert erachtet wird, gelebt zu werden.
Aber die Verachtung des Leibes, etwa in Form des asketischen Ideals,
ist nicht (nur) Ursache, sondern auch Ergebnis dieser falschen Perspektive.
Hinter der Verachtung des Leibes steht noch etwas "höheres":
das Telos, die Eschatologie, die Utopie, kurz die Kerngedanken der abendländischen
Philosophie und der Religionen.
Zumindest eines sollte deutlich geworden sein: Die Leib-Seele-Problematik
ist untrennbar verknüpft mit allen Zentralthemen Nietzsches; der
Ewigen Wiederkunft, der Affirmation, dem Ressentiment, der Differenz,
dem Übermensch, dem Wille zur Macht, Zarathustra, der Umwertung
aller Werte, Dionysos etc. In diesem Sinne ist es fraglich, ob die lang
gehegte Legende vom sich permanent widersprechenden Nietzsche berechtigt
ist. Unter diesem Gesichtspunkt gerät Nietzsche zu einem äußerst
strengen und konzisen Denker, allerdings mit einem anderen Begriff von
Ordnung und System. Man kann Nietzsches Schreiben auch als Spiel begreifen
- Schachspielmetapher -, als ein Zug um Zug, Zug und Gegenzug und müßte
dann versuchen, die große Ordnung, die große Logik des Spiels
zu überblicken.
© Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und
darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter
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dieser Seite:
13.12.2022
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