Plädoyer für ein neues Oblomowtum

von Jörg Seidel


Mit der Hauptfigur seines 1859 erschienen Romans "Oblomow" schuf I. A. Gontscharow einen literarischen Typus, dessen Lebenseinstellung sprichwörtlich wurde. War das Buch einst als Mittelteil einer Romantrilogie gedacht, die mit den in fast zehnjährigem Abstand geschaffenen Romanen "Eine alltägliche Geschichte" (1847) und "Die Schlucht" (1869) komplettiert wurde, so blieb nur der "Oblomow" im Langzeitgedächtnis des weltliterarischen Publikums haften, ist doch einzig hier ein Dichter an die Öffentlichkeit getreten, der mehr als Begabung nachweisen konnte. Nach seinem noch recht hölzernen und didaktischen Erstling bescheinigte ihm kein Geringerer als Belinski ein zwar nicht erstklassiges, wohl aber starkes und bemerkenswertes Talent (Belinski 507), und auch sein dritter Roman fand Aufmerksamkeit im Quintett der großen russischen Literaturpäpste, in Form einer scharfen Auseinandersetzung Saltykow-Schtschedrins. Man geht daher wohl nicht fehl, mehr als einen Zufall darin auszumachen, wenn Gontscharows Romane, bei denen es sich sämtlich um mehr oder weniger geglückte Variationen des Oblomow-Themas handelt, in der demokratischen Kritikerriege starke und kontroverse Resonanz hervorriefen, die sich bezeichnenderweise in der Argumentationsstruktur in wesentlichen Passagen verblüffend ähneln. Dies darf als Indiz einer grundlegenden Relevanz gelesen werden, was exemplarisch am kongenialen, wiewohl nicht unantastbaren, Essay Dobroljubows zum "Oblomow" exemplifiziert werden soll [1].

Bald nach der Veröffentlichung sorgte das Buch vor allem in Russland für Furore, und es konnte nicht ausbleiben, in Oblomow ein typisch russisches Phänomen auszumachen. So berechtigt diese Vereinnahmung auch sein mag, immerhin handelt der Roman im Russland der Leibeigenschaft, so sehr verstellte sie den Blick auf transrussische Zusammenhänge, jenseits von Nation und Politik, auf allgemeinmenschliche Bedeutungen. Daher erklärt sich auch die sehr differierende Wirkungsgeschichte des Buches in Russland und Europa; während es dort unanfechtbar zu den Klassikern der Literatur zählt, führt es hier bis in die heutige Zeit eher ein Schattendasein, kann es, abgesehen vom literaturwissenschaftlichen Diskurs, kaum Bekanntheit beanspruchen, woran auch verschiedenste Editionen nichts ändern. Es ist an der Zeit, diese Implikationen freizulegen, basierend auf einer offeneren Lektüre des Werkes. Originalität wird hierbei nicht beansprucht, mehr noch: es ist das Wesen des "An-der-Zeit-Seins", alte Dinge in neuem Licht zu sehen, jene Dimensionen freizulegen, die erst in der heutigen Konstellation sichtbar werden. Demzufolge geht es nicht um Kritik, wenn frühere Deutungsversuche nicht mehr uneingeschränkt gelten gelassen werden, denn sie mögen innerhalb ihrer eigenen Vorentscheidungen schlüssig und konsequent sein, vielmehr soll offenbar werden, wie wenig uns diese einstigen Grund-Sätze heute noch hilfreich sein können, indem ihre hermeneutischen Konsequenzen mit der hierjetzigen Realität konfrontiert werden, was deren überkommene Unjetztzeitgemäßheit wahrnehmen lässt. Eigentliches Ziel des Plädoyers ist aber der Versuch einer Rekultivierung, eines neuen Urbarmachens des lang brachliegenden Feldes von Oblomowka, selbst auf die Gefahr hin, der klassischen Lesart nach als "Schwärmer" zu gelten (vgl. Belinski 527).

Im gesamten ersten Drittel des Romans, knapp 200 Seiten, begegnet dem Leser Oblomow auf seiner Couch, mit sich ringend aufzustehen, um diverse Pläne verwirklichen zu können. Weder das eine noch das andere gelingt aus eigener Kraft, bedarf statt dessen eines unerschöpflichen Elans des literarischen Antitypus und persönlichen Freundes Oblomows, des deutschstämmigen Stolz. Von diesem plötzlich ins Leben gerissen, erwartet den Helden eine Liebe, die tief genug ist, in ihm all die liebessymptomatischen Lebensgeister zu wecken, jedoch nicht ausreicht, ihn aus dem vermeintlichen Sumpf seiner Bequemlichkeit endgültig herauszuziehen. So folgt, was folgen muß, die Liebe vermag sich nicht zu verwirklichen, sie stellt sich sogar als Irrtum heraus. Zu unerhört wäre das Ereignis gewesen. Die Welt nimmt ihren alten Lauf, Olga, Oblomows ehemalige Verlobte, ein gefühlsstarkes und intellektuell agiles Mädchen, heiratet den aktivistischen Stolz, während Oblomow im neuen Plüsch eines absolut fürsorglichen, ihn aller Sorgen entledigenden Witwenhaushaltes versinkt, um wenige Jahre später, nach durch Verfettung verursachten Schlaganfällen, in die Erde zu versinken. Hätte Gontscharow diese Figur nicht literarisch festgehalten, so wäre sie längst schon in den unergründlichen Tiefen des Vergessens verschwunden, denn nichts hat Oblomow hinterlassen, keine Spur in den Weg der Menschheit eingedrückt. Vielleicht gab es nie einen unauffälligeren, unbedeutenderen, unschädlicheren, überflüssigeren Menschen, keinen solchen Taugenichts. Vielleicht vermag er es deshalb, uns unverfälscht Wahrheiten ins Gesicht zu sagen.

Was ist Oblomowtum? - so lautet die Frage Dobroljubows, jenes großen russischen Demokraten, dessen literaturwissenschaftliche und philosophische Arbeiten in die vormarxistisch-leninistische Phase reichen, diese aber nicht unwesentlich vorbereitete. Noch Lukács verdankte Dobroljubow viel, insbesondere dessen Oblomow-Essay hatte für ihn exemplarischen Charakter als "wirklich große Kritik..." [2] (Besonderheit 212), vor allem aber Lenins Rückgriff auf den Begriff bestimmte weitgehend das Oblomowbild.

Dass "wir in dem Roman ein Zeichen der Zeit erblicken" (D 260), war für Dobroljubow noch die Quintessenz seines Essays, und wer wollte ihm da widersprechen, aber als zeitloses Zeichen der Zeit, als Zeichen der Zeitlosigkeit erhält Oblomow erst seine wahre Bedeutung, seine allgemeine Aktualität. Nur selten ist Dobroljubow überhaupt zu widersprechen, aber fast überall gilt es, ihn zu erweitern, zu öffnen, um die moderne Relevanz freizulegen. Gerade für ihn stellt Oblomow einen russischen Typus par excellence dar. Oblomowtum "dient als Schlüssel zur Enträtselung vieler Erscheinungen des russischen Lebens." (237), und er unterstreicht dies noch, indem er eine Traditionslinie konstruiert, die die russische Literatur durchziehe, aufgezeigt an Werken Puschkins, Lermontows, Herzens und Turgenjews. Unabhängig davon, ob die Petschorins, Belkins, Onegins, Rudins Oblomows sind, wie Dobroljubow Glauben machen will, erreicht er mit diesem In-Beziehung-Setzen die Reduktion des Oblomowtums auf eine Form des Russen- oder Slawentums, die den europäischen Leser bislang zwar tief in die sogenannte "russische Seele" blicken ließ, den Einblick in das jeweils eigene Oblomowtum und das der anderen Menschen jedoch verstellte. Selbst dort, wo er den "Oblomow in uns" (266) entdeckt und damit die anthropologische Dimension anspricht, die übrigens schon Belinski in Adujew, dem Helden der "alltäglichen Geschichte" vermutete (Belinski 508), was, gemessen an der Inkonsistenz dieses Romans eine nicht zu unterschätzende Leistung darstellt, verzichtet er auf Vertiefung und meint den Oblomow in "uns Russen". Doch folgen wir seiner Argumentation. Die literarisch-künstlerische Würdigung Gontscharows, mit der der Artikel beginnt, kann dabei weitestgehend vernachlässigt werden, vielleicht mit der einen Ausnahme, dass es dem Rezensenten nicht entgeht, mit welcher Empfindsamkeit der Dichter den Gegenstand nach allen Seiten dreht und wartet, "bis die Erscheinung alle ihre Momente offenbart" (D 233). Dahinter steckt die liebende Beziehung zum Gegenstand, die diesen selbst zu Wort kommen lässt, ohne über ihn zu reden. Es ist unverkennbar dieser quasi-phänomenologische Blick, der auch Dobroljubows Augen nicht entgeht (234). Hätte er aber die Liebe Gontscharows zu Oblomow wahrgenommen, dann wäre die nachfolgend dargestellte Charakterisierung des Helden nicht wahrscheinlich gewesen. "Worin bestehen die Hauptzüge des Oblomowschen Charakters? In der völligen Trägheit, einer Folge seiner Apathie gegenüber allem, was auf der Welt geschieht. Die Ursache für die Apathie wiederum liegt teils in seiner äußeren Lage, teils aber auch in der Art seiner geistigen und moralischen Entwicklung" (238). Die äußere Lage meint seinen Status als Gutsherren, die Entwicklungsfrage spielt vor allem auf seine Erziehung, seine Kindheit in Oblomowka an. In Oblomows Fall mögen dies entscheidende Ursachen sein, aber sie sagen fast nichts über das Oblomowtum. Würden sie das, dann wäre der Weg zum "Oblomow in uns" verbaut, sofern wir nicht Gutsherren sind, Diener haben und in einem Oblomowka aufwuchsen. Schon die Widersprüchlichkeit zeigt, wie inkonsequent Dobroljubows Deutung hier ist. Oblomowtum sei dementsprechend weiter gekennzeichnet durch den Drang, sich führen zu lassen (235), der eher auf der Vorabkapitulation aus Schwäche vor jedem Ver-Führer resultiert. So kommt es zu dem Paradox, der "vielleicht interessantesten Seite seiner Persönlichkeit" (242), dass ein Mensch, dessen äußere Voraussetzungen fast idealtypisch einen Freiheitszustand suggerieren - Oblomow kennt weder finanzielle Sorgen, gesellschaftliche Pflichten noch glaubt er, sich um irgendeine seiner Gutsbesitzerangelegenheiten ernsthaft kümmern zu müssen [3] - in eine, wie es Dobroljubow nennt, "moralische Sklaverei" absinkt. Freilich, der Kritiker kennt seinen Hegel, der in dieser Verflechtung von Sklaverei- und Herrenbewusstsein unschwer auszumachen ist. Was dann Ursache und was Wirkung ist, das vermag niemand mehr zu entwirren. Biographisch betrachtet jedenfalls ist klar: "Oblomow ist nicht stumpf und apathisch von Natur, nicht ohne höhere Bestrebungen und Gefühle, sondern ein Mensch, der in seinem Leben nach etwas sucht, über etwas nachdenkt" (242, Hervorhebung J.S.). Dem Zeitkritiker entgeht, dass der Held vielmehr über etwas Grundsätzliches nachdenkt, über die Frage Wozu?, die, zugegebenermaßen, erst in neuerer Zeit innerhalb des philosophischen Diskurses revitalisiert wurde. Es ist jene Frage, die weitgehend ausgeblendet oder prinzipiell ego-utilitaristisch beantwortet wurde. Hier ist - wie schon in seinen traurig-lichten Momenten Adujew - Oblomow exklusiv! Um moderne katastrophenorientierte Probleme fundamental lösen zu können, wird es unumgänglich sein, den Mut, die Frage Wozu? zu stellen, neu zu fassen. Dies hat Oblomow noch heute den meisten voraus. Man mag über dessen Beantwortung der Frage streiten und sich auch davon distanzieren, die Frage selbst aber gehört wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Wozu das alles? [4] Auch Dobroljubow hätte erkennen können, dass in Oblomows Verständnisverweigerungen, etwa wozu man im Staatsdienst Mengen von Papier beschreibe oder "wozu ihm das Studium dienen sollte" (245), Institution und Institutionalisierung im allgemeinen und Bürokratie und Erziehungswesen im besonderen in Frage gestellt werden, denn nichts von alledem, was dies Leben ermöglicht, von der Arbeit über das Studium bis hin zur Teilnahme an den sogenannten "gesellschaftlichen Ereignissen", kann wirklich eine akzeptable Alternative sein und dies weiß nicht nur Oblomow, sondern auch der Leser spürt es und kann es dem Romanhelden nicht wirklich verübeln, selbst wenn er sich einem Arbeits- und Ordnungsethos verschrieben hat. Schon dieses Wissen um die Relevanz der Frage Wozu? macht die Kritikerbehauptung, Oblomow könne und wisse nichts (243), suspekt. Abgesehen davon, dass dies nicht mal mit der Romanhandlung konform geht, in deren Verlauf der Titelheld durchaus mit einigen Fähigkeiten überrascht, wäre er doch überhaupt völlig uninteressant, da unveränderbar, würde dies ernsthaft geglaubt. Es gäbe dann wirklich nur ein Erziehungsproblem. Wenn ein Vers von Angelus Silesius hier erhellend beigefügt wird, dann nicht nur, um die vermutete Tiefe des Oblomowschen Nicht-Wissens und Nicht-Könnens, auch Nicht-Habens (denn andere verfügen mehr über sein Hab und Gut als er selbst, und Haben setzt ein Eigentumsbewusstsein voraus) zu verdeutlichen, sondern auch die Dimension dieses Seins zu verstehen: "Verlacht, verlassen stehn, viel leiden in der Zeit, nichts haben, können, sein, ist meine Herrlichkeit" (Angelus Silesius 35). Natürlich ist Oblomow kein Mystiker strenger Observanz, und keineswegs ist dies als Versuch zu werten, aus ihm posthum einen zu machen, aber gerade in diesen Zusammenhängen lassen sich Berührungspunkte feststellen, die Dobroljubow entgangen sind und Lenin entgehen mussten. Was der Aufklärer des Oblomowtums als Paradebeispiele für von Faulheit verursachte Unwissenheit anführt, erhellt unter ganz anderem Licht unverhofft neue und aufregende Züge: "Ich weiß nicht, was Fron, was Landarbeit ist, was ein armer Bauer vorstellt und was ein reicher. Ich weiß nicht, was das bedeutet, ein Scheffel Roggen oder Hafer, was er kostet, in welchem Monat man und was man säen und ernten muss, wie und wann man verkaufen muss. Ich weiß nicht, ob ich reich bin oder arm, ob ich im nächsten Jahr satt oder ein Bettler sein werde - ich weiß gar nichts." (in: D 244). Gerade diese Stelle zeugt gewissermaßen von einer urchristlichen Einstellung, die in dem Gleichnis von den Raben und Lilien (Lk. 12.24-27) verewigt wurde. Oblomows "Ich weiß nicht" heißt: Ich will nicht wissen, oder besser: Es kümmert mich nicht. Nichts haben wollen, können wollen, sein wollen, wollen wollen - das ist keine Willenlosigkeit im herkömmlichen Sinn. "Mit anderen Worten" schließt Dobroljubow aus seinem Textbeispiel, "seien Sie mein Herr und Gebieter, verfügen Sie über mein Hab und Gut" (244), und er hätte recht, fügte er hinzu: in diesen banalen "irdischen" Dingen. Schon in dem, was als "moralische Sklaverei" angezeigt wurde, hätte man die Einlösung christianischer Forderungen entdecken können (z.B. Mk. 12.17). Hier wird man Dobroljubows Kardinalfehler ausmachen und nachweisen können: "Alle diese Leute haben das Gemeinsame, dass sie im Leben keine Sache finden, die für sie eine Lebensnotwendigkeit, eine heilige Herzensangelegenheit, eine Religion wäre, die organisch mit ihnen so verwüchse, dass sie zugrunde gehen müssten, wenn man sie ihnen nähme. Alles an ihnen ist äußerlich, nichts in ihrer Natur verwurzelt" (263). Dagegen!: alles an ihnen ist innerlich, weswegen das Äußere keinen Eingang findet. Während der bürgerliche Kritiker in der Zeit der beginnenden Industrialisierung in ihm eine einzige Leere ausmacht, hält Oblomow die wirkliche Leere der Vollen, der mit Arbeit Übersättigten entgegen. Möglicherweise ist er als Einzelfall tatsächlich leer, jedoch nicht leer genug, um die totale Leere der allzu Beschäftigten nicht zu bemerken. Oblomows Leere bekennt sich dazu, sie beinhaltet immer noch, das sieht auch der Kritiker (256), Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Eigentlichkeit, während die leerste Leere gerade durch den Verlust dieser entsteht, welche einem geschäftigen Leben Fülle vorgaukelt, sei es "mit Spazierengehen auf dem Newski Prospekt" (256), der vielleicht noch humansten Form, einem geregelten Arbeitsverhältnis oder gar der Börsenhektik. Oblomows Leben, sein bloßes Dasein ist Zivilisationskritik, stellt diese, die westliche Zivilisation, nicht nur als Frage in Frage, sondern auch ganz explizit lebensweltlich, sofern es an ihr nicht teilhat. "Unter den gegebenen Umständen konnte er nirgends eine Beschäftigung nach seinem Geschmack finden, weil er überhaupt den Sinn des Lebens nicht kannte..." (245) - räsoniert der Kritiker. Wohl dem, der diesen kennt! Dobroljubow schien einer dieser Kenner zu sein, ohne freilich dem Leser den Gefallen zu tun, die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Menschen bewegt, seit es sie gibt, zu beantworten. Zugegeben, nur wenige stellen sich ihr wirklich existentiell, aber zu diesen gehört zweifellos Oblomow. So korrekt es ist, zu behaupten, dass er nicht fähig war, "einen Sinn in sein Leben hineinzubringen", so regelrecht falsch ist es, daraus zu schlussfolgern, er hätte sich diese Frage nicht gestellt (244). Gerade die Frage: Was ist das Leben? oder: Ist das das Leben? ist Oblomows Grundfrage.

Es geht hier nicht darum, die Kritik vorzuführen, sondern die Fakta müssen deswegen betont werden, um einem neuen Oblomowtum den Weg zu bereiten, und das beinhaltet auch, den bereits zurückgelegten Weg von Vorurteilen zu bereinigen. Dabei war Dobroljubow dem schon recht nah, aber seine selektive Wahrnehmung ließ ihn gerade jene Nuancen ausblenden, die den Typus Oblomow wertvoll machen. So etwa interpretiert er Petschorins (der Held des Romans "Ein Held unserer Zeit" von Lermontow) Weigerung zur Ehe als Unfähigkeit zu lieben, und diese wiederum als Oblomowtum, ohne dass er dessen Intention, "aber meine Freiheit verkaufe ich nicht" (D 251), ernst nähme. Ein einfacher Syllogismus reicht, um hier Nutzen daraus ziehen zu können, im Sinne eines neuen Oblomowtums, denn die beiden Prämissen zusammen ergeben nichts anderes als: Oblomowtum ist Freiheitsliebe. Was dann noch von dem Gerücht der Liebesunfähigkeit übrigbleibt, ist die Wehr gegen institutionalisierte, konventional kanalisierte Liebe, deren vorprogrammierte Abtötung. Auch in Bezug auf das andere Geschlecht stellt sich Oblomow die Fragen: Wozu und wohin? "Aber er fand keine Antwort auf diese Fragen und begann die Frauen zu meiden" (245). Dass dagegen das Meiden die Antwort auf die Fragen ist, entging sogar dem dialektisch Geschulten.

Es liegt in der Logik der Aktivistenargumentation, die Quelle umzuleiten. Gontscharow schreibt: "Oblomow wird sich nie dem Idol der Lüge beugen, seine Seele wird immer rein, hell und ehrlich bleiben... Es ist eine kristallklare, durchsichtige Seele; solcher Menschen gibt es wenige; sie sind Perlen in der Menge! Sein Herz lässt sich durch nichts bestechen, auf dieses Herz kann man sich immer und überall verlassen!", Dobroljubow zitiert dies, um dann die unglaubliche Frage zu stellen: "Aber inwieweit kann man sich, das möchte ich wissen, auf ihn verlassen?" (267). Natürlich kann man sich auf einen Oblomow nicht verlassen, das gerade macht ihn doch so anders - aber auf sein Herz ist Verlass.

Wir sind am Punkt angelangt, an dem die Rodung des Waldes von Oblomowka durch den Kritiker so weit fortgeschritten ist, um einem anderen hervorragenden Beobachter der russischen Geschichte und Literatur die freie Sicht zu garantieren. Lenin, für den Wissen Macht war, der sich ständig die Frage "Was tun?" stellte (übrigens ebenfalls inspiriert von einem großen russisch-demokratischen Philosophen, von Tschernyschewskij und dessen gleichnamigen Roman), für den Sowjetmacht plus Elektrizität Sozialismus ergab, der in groß angelegtem Stile den Subbotnik, die unentgeltliche Arbeit an Wochenenden, einzubürgern versuchte, dessen Gedanken sich immer auch darum drehten, wie der Arbeitswettbewerb zu forcieren sei, für den stets also Effizienzkriterien primär galten, dieser Lenin konnte Dobroljubows direktes Zuspiel nicht propagandistisch ungenutzt lassen, und er vor allem war es, der den Begriff des "Oblomowtums" weltweit bekannt machte. Es ist schließlich noch keine zwanzig Jahre her, da galten Lenins Schriften, neben der Heiligen und denen Agatha Christies, als Weltbestseller Nummer Eins. Das Sprichwörtliche des Oblomowtums jedenfalls wurde wesentlich von Lenin erfasst und weitergegeben, und es mag von Interesse sein, die mitschwingenden Konnotationen hörbar zu machen. Zitat aus einem legendären Buch: Lenin - Ein kurzer Abriss seines Lebens und Wirkens, Moskau 1947: "Mehr als alles liebte Lenin die lebendige Tat. Schonungslos brandmarkte er Bummelei, Schlendrian, den Hang, die schöpferische, schaffende Arbeit durch Redereien zu ersetzen. Er geißelte diejenigen, die alles in Angriff nahmen und nichts zu Ende führten. Er hasste zutiefst den überflüssigen Sitzungsrummel, den sinnlosen Leerlauf, den Oblomow-Geist. 'Es genügt uns, einmal anzusehen, wie wir Sitzungen abhalten, wie wir in Kommissionen arbeiten, um zu sagen: der alte Oblomow ist noch da, und man muss ihn lange waschen, reinigen, klopfen und walken, damit etwas Vernünftiges herauskommt.'" (351 ff.). In guter alter stalinistischer Naivität wird auch noch eine Erläuterung angeboten: "Oblomow - Titelheld eines Romans des bekannten russischen Schriftstellers Gontscharow. Typus eines russischen Gutsbesitzers, eine Verkörperung der Bärenhäuterei, zopfiger Rückständigkeit und des Strebens nach einem satten, ruhigen Dahinvegetieren" (388). Der alte Oblomow! Lenin ahnte etwas von der anthropologischen Tiefe des Oblomowtums, denn der alte Oblomow ist für ihn nichts anderes als der alte Adam, der alte Mensch, den es abzulegen, im dialektischen Sinne aufzuheben, gelte, damit etwas Vernünftiges herauskommt. Nicht umsonst zählt er andernorts das Oblomowtum in eine Reihe zu "patriarchalischen Zuständen und Halbbarbarei" (LW 32, 363). Dieser Weitsicht steht andererseits die Einengung des Begriffes auf das "kommunistische oder vielmehr russische (Dobroljubow lässt grüßen) Oblomowtum" (LW 33, 199) [5] gegenüber. Das ist freilich der späte Lenin, dem wohl zu schwanen begann, wie Bürokratie und Parteikarrierismus seine hehren Pläne zu zerstören drohten. Gerade der Band 33 der Werke Lenins legt unzählige Male Zeugnis ab vom verzweifelten Kampf des Revolutionsführers gegen Gammelei auf allen Ebenen, und noch Gorbatschows "Perestroika"-Buch, einst hochgelobt im Westen, weil in wesentlichen Passagen unverstanden oder nicht ernst genommen, ist nichts anderes, als die Reanimierung des Spätleninismus, insbesondere der NÖP-Phase. Man wird dort kaum einen Gedanken Gorbatschows ausfindig machen, der nicht schon von Lenin vorgedacht wäre. Die Bekämpfung des, freilich längst entarteten, Oblomowtums in Gesellschaft und Partei spiegelt sich noch im zeitweiligen Wodkaverbot und den innerparteilichen "Säuberungen" nach 1985 wider. Als Marxist hätte Lenin es wissen müssen, und wenn er es nicht aussprach, dann, des sollten wir uns sicher sein, liegt eine Verleugnung vor, eine Furcht vorm Eingeständnis: das Oblomowtum ist keine genuin russische Erscheinung, das Oblomowtum der Schlaffheit und des Nihilismus muss als gesellschaftlich determiniert gelten - eine Einsicht, die Anarchisten, das Recht des Spätgeborenen gegen Dobroljubow schamlos ausspielend, immer leicht über die Lippen geht, wo der Kommunist Selbstzensur betreibt. Gorbatschow, dem Spätleninisten, der vor dem Trümmerhaufen der modernen russischen Geschichte stand, konnte Kropotkins tiefer Einblick längst nicht mehr schockieren, selbst wenn er ihn auf die Gesellschaftsformation bezieht, die vermeintlich frei von "antagonistischen Widersprüchen" war. Kropotkin: "Je mehr wir uns von den Zeiten der Leibeigenschaft entfernen, um so mehr beginnen wir zu erkennen, dass Oblomow in uns nicht gestorben ist: dass es nicht die Leibeigenschaft allein ist, die diesen Menschentypus hervorbringt, sondern dass die Lebensbedingungen der Wohlhabenheit und des zivilisierten Lebens für seine Erhaltung sorgen" (Kropotkin 162). Oblomow "ist ein Typus, der von unserer gegenwärtigen Zivilisation [6] mit ihrem üppigen, selbstzufriedenen Leben gezüchtet wird" (163). Wie weit dieses Oblomowtum da schon vom Ursächlichen abgerückt war, wird um so deutlicher, wenn nachfolgend der Schöpfer Oblomows selbst zu Wort kommen soll. Wollen doch sehen, ob aus dieser Quelle wirklich nur Wodka oder nicht doch Woda, ob statt des berühmten Wässerchens nicht doch klares Wasser fließt.

Nun ja, es ist nicht ungetrübt, denn obwohl Oblomow als Idealtypus daherkommt, so ist er doch nicht frei von Widersprüchen, Gegensätzen, Paradoxien. Das mag wiederum für Gontscharows Schreiben sprechen, der den Leser überaus plastisch, tief und umfassend mit dem Helden bekannt macht. Man sollte darauf gefasst sein, Oblomowtum nicht als gut oder schlecht vorzufinden, aber bereits hier unterscheidet es sich wesentlich von den vorgeführten späteren Interpretationen, die sich als einseitig erweisen werden. Da die negativen Seiten Oblomows im Laufe der Wirkungsgeschichte recht ausreichend im Vordergrund standen, soll das Plädoyer für ein neues Oblomowtum nichts anderes sein als die bewusste Vereinseitigung der positiven Faktoren. Insbesondere Dobroljubow hatte schon einigen Fleiß darauf verwandt, jene Eigenschaften Oblomows ausfindig zu machen, die unter den kritischen Augen des Aufklärers auf kein mitfühlendes Verständnis hoffen konnten. Dieser Eifer führte, wie gezeigt wurde, mitunter zu einer Überinterpretation. Von diesen eher seltenen Fällen abgesehen, entging ihm ansonsten kaum ein Schwachpunkt des Helden, der ihm dann als Trefferfläche für Kritik, Spott und Verachtung diente. Oblomow tritt dem Leser als ein Mensch entgegen, der nicht nur selbst ein parasitäres Leben führt, sondern auch dem Schmarotzertum anderer, zwielichtiger Gestalten wehrlos erliegt, der faul, selbst zum Leben zu faul, und gefräßig ist, ohne freilich die Kraft zu einem kultivierten Hedonismus aufbringen zu können, der "in den beruhigenden Worten 'vielleicht' und 'irgendwie' eine ganze Arche voller Hoffnungen und Tröstungen fand", der nicht in der Lage ist, irgend etwas zu vollenden, allein schon, weil er nichts wirklich beginnt, der von sich selbst weiß: "Ich bin ein wenig...träge" (252), dessen Hang zum Liegen dieses zu seinem Normalzustand werden ließ (7), dessen Wille zur Sauberkeit (16) meist am Unwillen zum Saubermachen scheitert, der bekennender Nichtleser ist (33), da ihm sowohl das Interesse an Lebens-Romanen als auch am Weltgeschehen abgeht, dessen Leben eines ohne Zufälle bleibt, dessen Lebensideal "ohne Poesie, ohne jene Strahlen" in Ruhe, Behagen und friedlicher Stille (618) bestand. Dabei ist er in den hellen Momenten seines Lebens durchaus in der Lage, darüber zu reflektieren und empfindet dann sein Leben selbst als unnütz (303), spürte, dass er erlosch und Leben und Geist an Kleinigkeiten verausgabte (238), gesteht, welche Qualen er an diesem Oblomowtum leidet (237). Allerdings, diese hellen Momente bedürfen der Erhellung, der Hilfe des Aufklärers Stolz, und stehen daher auch unter dem Verdacht der Beeinflussung, denn ebenso wenig wie er den verbrecherischen Einflüsterungen falscher Freunde zu widerstehen vermag, gelingt ihm das bei den gutgemeinten des Freundes. "Oblomow hörte ihm zu und sah ihn erregten Blickes an. Der Freund hatte ihm gleichsam, einen Spiegel vorgehalten, und er erschrak, als er sich darin erkannte (237). Tatsächlich aber sieht Oblomow nicht sich selbst im Spiegel, sondern das Bild, das Stolz ihm vorgezeichnet hat. Als Bedingungsursachen für diese Entwicklung bietet der Autor zwei an: die Erziehung in Oblomowka und die gesellschaftlichen Umstände, in Form der Möglichkeit, sich bedienen zu lassen und die damit verbundene Knechtschaft durch die Knechte. (184). Weiter kam Dobroljubow bekanntlich auch nicht.
Wer das Leben Oblomows bisher nur durch die Brille der russischen Kritiker gelesen hat, wird eventuell überrascht sein über dessen andere Seite, die sich äußerst facettenreich zeigt. Da werden Sätze, wie in Marmor gehauen, zu lesen sein, die Dobroljubow allerdings nicht der Zitation würdigte und die auch Lenin nie in den Sinn kamen, wenn er vom Oblomowtum sprach.

Prinzipiell lässt sich konstatieren, dass für nahezu jede angeführte Charakterlosigkeit ein Pendant existiert, zumal meist in einen hellen Schein getaucht, der einer Aureole nahe kommt. Das ist der Mensch Gontscharows: "endlich aber - und das war das Wichtigste - lag im tiefsten Grunde von Oblomows Natur ein reines, lichtes, gutes Element, welches Sympathie zu allem hegte, was gut war und sich auf den Ruf dieses schlichten, einfältigen, ewig vertrauensseligen Gemüts hin, entgegenkommend erschloss" (214). Was mag das beinhalten, will es doch gar nicht recht in dieses Bild des Apathischen, Willen- und Interesselosen, Faulen, Trägen, Dummen, Leeren und Bildungsunfähigen passen, das die Kritiker, entwarfen. Nun, es meint den tief Empfindenden: "Die Freude an einem hohen Gedankenflug war ihm zugänglich; das allgemeine Leid der Menschheit war ihm nicht fremd. Er konnte manchmal in tiefster Seele bitterlich weinen über das Elend der Menschheit. Er empfand namenlosen Schmerz und Sehnsucht." (82), in dessen Brust und Kopf ungeahnte Stürme tobten: "Um seine Fähigkeiten, die vulkanische Innenarbeit des Feuerkopfs, um sein humanes Herz wusste Stolz genau Bescheid... " (84). Es meint ebenso den Sucher nach Sinn und Form des Lebens: "...und suchte immer wieder nach einer Lebensform, nach einer solchen Existenz, die sinnvoll wäre und gleichzeitig still dahinfließe, Tag um Tag, Tropfen um Tropfen, in stummer Betrachtung der Natur... " ( 440). Jener Oblomow ist durchaus fähig, Momente wahren Glückes zu empfinden (vgl. 97), auch, oder besser gerade wenn er sie aus sich selbst schöpfen muss. Mit all der Geschäftigkeit der Menschen konnte er nichts anfangen, und dass Geld gar die Welt regiert, blieb ihm vollkommen unverständlich. Weder kannte er die Sorge darum (17), und keineswegs weil er genügend davon gehabt hätte, sondern es interessierte ihn einfach nicht, noch zerbrach er sich "den Kopf mit verschiedenen Plänen - wie das Menschen von heute zu tun pflegen -, wie man es etwa anstellen solle, um neue Produktionsquellen des Landes zu erschließen oder die schon vorhandenen zu erweitern und zu vermehren usw." (80). Dass er sich frei von Arbeitsverpflichtungen fühlte, ist keineswegs mit seinem Herrenstatus ausreichend erklärt. Ebenso wie man Gontscharows Roman unzulässig verkürzt, wenn man ihm unterstellt, wie noch in einem bundesdeutschen literaturwissenschaftlichen Standardwerk, er hätte "die Überflüssigkeit der russischen Gutsbesitzer" (Flaker 355) darstellen wollen. So betrachtet wäre dieses Werk zeitgeschichtlich dermaßen geknebelt, dass es der heutige Leser nur noch aus literaturhistorischer Sicht gewinnbringend durcharbeiten könnte. Damit wird es nicht nur seiner eigentlichen literaturhistorischen Bedeutung beraubt, die gerade darin besteht, höchst aktuell zu sein, sondern die gesamte Dimension der Modernekritik, die Gontscharows Oblomow bereits im Jahre 1859 vollbrachte, wird ausgeblendet. Es sind gerade jene fundamentalen Fragen Oblomows, die allzu leicht das Stigma des Fundamentalismus eingebrannt bekommen, deren ganze Tragweite erst am Ausgang des 20. Jahrhunderts zu erahnen ist. Schon Oblomows Existenz ist ein Fundamentalangriff auf modernes Selbstverständnis.

"So also liegen die Dinge: Arbeit und wieder Arbeit." sagte Oblomow (27). So also liegen die Dinge! Arbeitnehmer und Arbeitgeber schließen, wenn sie nicht gerade im Arbeitskampf miteinander - aber immer noch gemeinsam - stehen, Bündnisse für Arbeit, das Recht auf Arbeit ist grundgesetzlich verbürgt, "wir steigern das Bruttosozialprodukt" singt man zur Polonaise, arbeitswillig zu sein macht schon die halbe Lebensberechtigung aus, Arbeitslosigkeit dagegen bedeutet, als unausgesprochener Vorwurf, Nutzlosigkeit und Asozialität, "Arbeitsamkeit" hat die Tugendleiter längst bis zur Spitze erklommen, das Interesse an der Lage auf dem Arbeitsmarkt eint die Nation, vom Börsenmakler bis zum Penner, - Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitsamt, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Handarbeiter, Werksarbeiter, Bauarbeiter ... kaum ein Begriff kennt solch mannigfaltige Schattierungen und ist in aller Munde, kaum ein Begriff durchzieht die Moderne von Beginn an so stetig und unbeeinflusst. Schon in Gontscharows Debütroman war vom Onkel Adujews, dem literarischen Pendant Stolzens, "nichts als arbeiten" zu hören, seit seinesgleichen gilt apodiktisch: "Liebe ist Liebe, Arbeit ist Arbeit", seither glaubt "Man" an die Dogmatik der Arbeit: "Man muss arbeiten" [7] ... und so erklärt sich das Resultat: Mensch und Arbeiter bewegen sich als Begriffe immer mehr auf Synonymität zu, wohl noch nie fand die paulinische unchristliche Forderung: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" (2. Thess. 3.10) so viel dankbare Zustimmung in der arbeitenden Bevölkerung, unabhängig davon, dass die riesige "Armee der Arbeit" (Lenin) mittlerweile so viele Arbeitsergebnisse zeitigt, um zugleich eine ganze Armee der Nichtarbeit erhalten zu können. Dass menschliche Arbeit immer schon ein naturzerstörerisches Element besitzt, war nie ein Geheimnis, zumindest nicht für all jene, die es wissen wollten. Aber unabhängig davon meint Oblomows Arbeitsethos die individual-menschliche Komponente des "Wir arbeiten uns zu Tode". Sein Ansatz ist ein lebensphilosophischer: "In seinen Augen zerfiel das Leben in zwei Hälften: die eine bestand aus Arbeit und Langeweile - für ihn waren das synonyme Begriffe -, die andere aus Ruhe und heitrem Behagen" (69). Statt also Mensch und Arbeit aneinander anzunähern, geht es ihm darum, den Hiatus zwischen Mensch und Leben zu überwinden [8]. "Wann soll man denn leben", fragt er sich selber (77) immer und immer wieder und kommt zu dem Schluss (der uns an die existentiellen Nöte Rimbauds erinnern mag): "Das eigentliche Leben aber ist da nirgends zu finden" (33). Mittlerweile mag es nicht mehr zu überraschen, in Oblomow auch einen Vordenker zu sehen, der jene Differenz bemerkte, deren Existenz heutzutage allgegenwärtig ist, die anzusprechen aber immer noch immer Entrüstungsstürme in der akademischen Fraktion zur Folge haben kann: "Eigenartig hatte das Studium auf Ilja Iljitsch gewirkt. Zwischen Wissenschaft und Leben hatte sich ihm ein ganzer Abgrund aufgetan, den er gar nicht zu überschreiten versuchte. Das Leben war eine Sache für sich, und die Wissenschaft war eine Sache für sich" (79). Nach alledem wird allmählich deutlich, auf welchen Irrweg Dobroljubows Interpretation führte, denn es ist gar nicht das Leben, das Oblomow langweilte, nicht zum Leben ist er zu faul, sondern einzig und allein zu diesem Leben. Er denkt viel grundsätzlicher als sein Kritiker, dessen interiorisierte Bejahung der Fortschrittslogik offenbar wird, aus der schließlich, diese einmal angenommen, nichts anderes als eine Verurteilung des falsch verstandenen Oblomowtums erwachsen kann. Eine folgenschwere Entscheidung, die Leser, Politiker und Literaturwissenschaftler bis heute auf eine falsche Spur führte. Von dieser Aufklärersicht aus muss Oblomows Sein als leer und träge erscheinen, dabei ist es gerade diese ruhende Leere, die es dem Titelhelden ermöglicht, wie auf einem tibetischen Hochgebirgsplateau das Treiben unter sich zu betrachten. Daher dieses unzeitgemäße Sensorium, die Leere der Modernen zu spüren. "Durch das Geschrei hindurch merkt man den tiefen Schlaf, in dem sie liegen" (227). "Überall - Leere, Leere, Leere!...Wo bleibt der Mensch? Wo der Mensch in seiner Ganzheit? Wohin ist er verschwunden? Wie hat er sich in lauter kleine Münze verausgaben können?" (224) In der Tat: "Du bist ein Philosoph, Ilja!", sagte Stolz, und wir mit ihm, "Alle Welt hastet und rennt, du allein hast überhaupt keine Bedürfnisse" (226). Mag der stolze Deutsche dies sarkastisch gemeint haben, so erhascht ihn der Leser doch in seiner hellsten Stunde, zumal er in diesem Zusammenhang auf das Herkommen des Denkens des dickbäuchigen, seelenruhig lächelnden Buddhas Oblomow verweist: "Weißt du was, Ilja", sagte Stolz, "du redest so daher wie ein Mensch aus der alten Zeit, in alten Büchern steht genau dasselbe zu lesen" (226). Ein altes Denken lebt in Oblomow, aus Oblomow, und es bedarf noch nicht mal des Bücherwissens. Hier stehen nicht Modernität und Restauration sich gegenüber, wie man seit zwei Jahrhunderten glauben machen will, nicht Fortschritt und Reaktion sind die Antipoden, sondern die conditio humana ist es, die, in Oblomow noch urwüchsig und deshalb streitbar, sich den Modernisierungsauswüchsen und -zwängen entgegenstellt. Äußerungen, die einst Beweis für Oblomows Naivität und Konservatismus hätten sein können, atmen nun etwas von Weisheit, vermitteln plötzlich tiefe Einsichten in die Logik der Moderne: "Die Bauern waren einigermaßen brauchbar; man hörte nichts von ihnen, weder Gutes noch Schlimmes. Sie tun ihre Arbeit und verhalten sich ruhig. Jetzt wird man sie demoralisieren! Tee, Kaffee, Sammethosen, Ziehharmonika, Transtiefel werden hinkommen...Das kann nicht gut enden!" (216). Die Dinge sind nicht von den zugehörigen Verhältnissen und deren Auswirkungen zu trennen: wer A sagt, muss auch B - wie Bombe - sagen.

Dieser nahezu mystische Ganzheitsanspruch kam hier schon einmal zu Wort und bestätigt sich noch in den oft quasi-meditativen Faulheitsphasen Oblomows. Es ist diese Innerlichkeit, die ihn in die Nähe der alten Meister rückt, ihn zudem vom modernen Menschen unterscheidet. Nicht nur der Typus Stolz ist damit angesprochen, dessen Differenz zu Oblomow eklatant ist, selbst die viel subtilere und kontemplativ veranlagte Olga - Kropotkin machte in ihr sogar eine "der besten Typen der russischen Frauen in unseren Novellen" aus (160) - muss gestehen: '"All diese Leiden und Freuden...., die Natur...", flüsterte sie, "alles lockt mich noch weiter hinaus; ich bin so, dass mich nichts befriedigt"' (599, Hervorhebung J.S). Oblomow stattdessen "grübelte über seine Bestimmung nach und entdeckte schließlich, dass der eigentliche Horizont seiner Wirksamkeit und seines Lebens in ihm selber beschlossen lag" (80).

Wo will das hinaus? Ist Oblomow etwa ein Visionär? Er ist! Hat er etwa eine Utopie? Er hat! Es lohnt sich, diese abschließend genauer zu befragen, nicht zuletzt, weil sich der Ort des kritischen Irrtums, immerhin verschwieg uns Dobroljubow diese eminent wichtigen Fakten, endlich zeigen wird. Dabei will seine Utopie - halten wir dies schon als wesentliche Differenz zu den religiösen und wissenschaftlichen Welteschatologien fest -, noch nicht mal hoch hinaus, vielmehr fragt man sich, was ihn denn hindere, diese realistische Utopie zu verwirklichen. Lediglich im Traum entwirft er ein "wunderbares Land", ohne Meer und Berge, das postapokalyptische Züge trägt (Offb. 21.1). Ansonsten zeichnen sich Oblomows Gedanken durch Bescheidenheit aus, und es dürfte wohl nur das Dobroljubowsche und Leninsche Oblomowtum sein, das ihn wesenhaft bindet. Auch das mag ihn von den großen Utopien der Menschheitsgeschichte unterscheiden - dass seine eben nicht groß ist. "Paradise now", so möchte man auch heute noch seine Botschaft benennen, die er dem "Apokalypse now" ebenso entgegenstellt, wie er das "Apokalypse not now" affirmativ transzendiert. Von Freunden ist da die Rede, von glücklichem Zusammenleben, von friedlicher Blumenpflege, Spazierengehen, dem erfrischenden Bade im Fluss, von Ruhe, Behaglichkeit, Gärten, Feldern und Wäldern... "Wir gehen langsam, bedächtig, schweigend, oder wir denken laut, träumen, zählen die Augenblicke unseres Glücks wie den Pulsschlag. Wir hören unsere Herzen klopfen und erbeben. Wir suchen Widerhall in der Natur...und unvermerkt kommen wir an den Fluss, an den Feldrain... Leise plätschert das Wasser, die Ähren schwanken im leichten Winde, es ist heiß..." [9] (230f.) Dies alles geschöpft "aus der Fülle befriedigter Wünsche". "Wen man nicht lieb hat, wer nicht gut ist, mit dem stippt man auch nicht das Brot in dasselbe Salzfass. Aus den Augen der Anwesenden strahlt einem wohlwollende Sympathie entgegen. Wird aber gescherzt, so ertönt aufrichtiges, nicht boshaftes Lachen..., alles so, wie es dem Herzen am liebsten ist! Blicke und Worte drücken nur das aus, was das Herz spricht!" (232) Dies alles aus dem Oblomowschen Wesen erklären zu wollen, reicht nicht aus, vielmehr ist es auch Resultat seines Geschichtspessimismus und -skeptizismus: "Und auch die Geschichte kann einen ja nur traurig stimmen. Da lernt man und liest von Schreckensjahren, die angebrochen sind. Die Menschen sind unglücklich. Nun raffen sie sich wieder auf, arbeiten, schuften, haben furchtbar zu leiden, müssen sich placken, alles nur in Erwartung besserer Zeiten. Schon sind sie da, und wenn die Geschichte sich doch wenigstens jetzt Ruhe gönnte - nein, wieder ballen sich Wolken, wieder stürzt der ganze Bau zusammen, wieder heißt es arbeiten, schuften... Die besseren Tage verweilen nicht, sie eilen davon, und das Leben fließt immerzu, und fließt, und nichts bleibt als Bruch und wieder Bruch" (77). Die metaphysische Vision hat geschichtsphilosophische Relevanz, was um so deutlicher wird, als sie hin und wieder verblüffende Ähnlichkeiten zu Geschichtsutopien aufweist, die längst einen festen Bestandteil im visionären Kanon bilden. Wenn "utopisch" und "undurchführbar" bislang als synonyme Begriffe galten, so entdeckt Oblomow uns den positiven Sinngehalt der Realisierbarkeit, denn es bedarf zur Verwirklichung keiner Götter, Messiase, keiner Schicksale oder historischer Gesetze, keiner Klassenkämpfe, erst recht nicht waghalsiger (Raum-) Schifffahrten auf der Suche nach unbekannten, paradiesischen Inseln oder Planeten, sondern einzig und allein des Subjekts. Bereits für unseren unheroischen Helden war die Anmaßung universaleschatologischer Gedankenweitflüge schon vorbei, bevor sie erst richtig durchstarteten; für ihn heißt Denken Philosophieren, sich auf die Suche begeben nach neuen, besseren Lebensfeldern, die er, statt expansiv neues Land zu suchen, in den unendlichen Weiten seiner eigenen Existenz ausmachte, denn was hülfe alles Grübeln, all die Geistesmarter, wenn sie Leben und Mensch, Leben und Denken, Handeln und Reflexion nicht in Übereinstimmung brächte. Utopia liegt im Menschen, in mir, in Dir! Es ist nicht das Land der Freiheitsorganisation, sondern das der Freiheit, die man sich nimmt, und das ist nichts anderes als die Selbstbewusstwerdung des Menschen als Freier - der frei ist und wählt. '"Aber du malst mir da genau dasselbe aus, wie es schon zu Zeiten der Großväter und Väter war!", widerspricht Stolz emblematisch Oblomows Realutopie. "Nein", erwiderte Oblomow fast gekränkt, "es ist nicht dasselbe."..."Du hörst doch - Noten, Bücher, ein Klavier, elegante Möbel..."' (232). Andernorts auf die Bürokratenfrage: "Und was täte ich sonst, wenn ich den Dienst nicht hätte?", antwortete unser Held, "Du würdest lesen, schreiben...." (28) [10] Was man heute als Selbstverwirklichung bezeichnet, als Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, inklusive des dabei unerlässlichen primum vivere, macht Oblomows Ideal aus, und was sollte einen daran hindern, sich der Mechanik zu entziehen, um, statt dieser zu dienen, sich ihrer zu bedienen? Wir können es nun nicht mehr verhehlen: in Oblomow lebt der antike, der ursprüngliche Typus des Philosophen, dem, der die Weisheit liebt, wieder auf, dessen Ziel stets in der Veränderung der Natur, der eigenen, bestand und je nach Auffassung, entsprechende Praktiken, Übungen, Maximen aufstellte, die Vervollkommnung garantieren wollten. Ganz im prinzipiellen Gegensatz zu nahezu allen Nachfolgenden, denen es entweder darauf ankam, "die Welt zu verändern" oder aber ausfindig zu machen, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Leben und Theorie, die längst schon getrennte Wege gingen, sind mit Oblomow wieder zur Symbiose zusammengewachsen, die erst durch das platonische Intelligible erschüttert, durch die sendungsbewussten Adepten Gottes, getrennt wurden. Und sind die materiellen Grundvoraussetzungen, die einst als unerlässlich galten, um jene ideale oder wenigstens bessere Welt zu ermöglichen, nicht längst realisiert, ist der status praesens nicht gar schon umgekippt, hat nicht jeder schon zuviel, um noch glücklich sein zu können?

Der "Oblomow in uns", der ist längst erwacht, anders aber als bei Dobroljubow vermutet: Er lebt im Arbeiter und Angestellten, der lieber halben Lohn als doppelte Arbeit akzeptiert, im Studenten, der nach zwei abgeschlossenen Brotstudien, statt sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, beginnt, Kunst oder Philosophie zu studieren, im "Arbeitslosen", der es sich leistet, auch das dritte Angebot des Arbeitsamtes abzulehnen, im Kommunemitglied, das nach alimentärem Limit an der gemeinsamen Arbeit teilnimmt, er lebt zum Teil auch im Sinnsucher, der ein Jahr Tibet einlegt, um zu sich zu finden, im Abenteurer, der mit dem Rad die Welt umrundet... Der neue Oblomow wäre ein nicht sybaritischer, er hätte sein Anderssein im autonomen und souveränen Entscheidungsakt gewählt, es wäre ihm weder anerzogen noch aufgezwungen, er wäre geistig aktiv, ohne etwas schaffen zu müssen, und doch mit einer ausgeprägten, verfeinerten Sinnlichkeit ausgestattet, er würde die Ruhe suchen, nicht indem er ausreißt, sondern selbst keinen Lärm macht, um gewisse Aktivitäten zu beenden, verzichtet er auf Gegenaktivität und entzieht dem Wirbel durch seine Ruhe, sein Harren, die Energie. Oblomow lebt! Und wie nennen wir diese Lebensform?: '"Es ist....', Stolz dachte nach und suchte nach einer passenden Wendung für diese Art Leben, '...Oblomowtum', sagte er endlich." Darauf Oblomow: "'Was ist denn deiner Ansicht nach das Ideal des Lebens? Was wäre nicht Oblomowtum?', fragte er niedergedrückt, schüchtern. 'Streben nicht alle danach, wovon ich träume? Erlaube', fügte er kühner hinzu, 'ist denn das Ziel eures Getriebes, der Leidenschaften, Kriege, des Handels, der Politik - ist es nicht ein Streben nach Ruhe, ein Streben nach diesem Ideal eines verlorenen Paradieses?' 'Eine richtige Oblomowsche Utopie', erwiderte Stolz." (234) Wirkliches Oblomowtum, das übersahen die Kritiker bisher, umfasst nicht den tristen Alltag des Iwan Iljitsch, der in dieser Form ihm gesellschaftlich aufoktroyiert wird, sondern dessen Vision! Insofern ist das neue Oblomowtum gar nicht neu, sondern nur neu entdeckt. Was ist Oblomowtum? Mit dieser Frage begann das Plädoyer, und es endet mit der Einsicht, dass Dobroljubow die Frage nicht zur Antwort führte, dass auch Lenins Spottpfeile das Ziel verfehlen, denn beide, und mit ihnen die Tradition, legten a priori Wertmaßstäbe an, die den real-visionären Blick Oblomows nicht auffangen konnten. In der Tat, Oblomow ist ein Nichtstuer, ein Schmarotzer, er ist völlig überflüssig - wie ein Baum.

"'Ach!' seufzte Ilja Iljitsch bekümmert. 'Was ist das für ein Leben! Wie scheußlich dieser Lärm der Großstadt! Wann wird endlich das paradiesische, ersehnte Leben beginnen? Wann sehe ich die Felder, die heimatlichen Wälder wieder!' dachte er. 'Könnte man doch jetzt unter einem Baum im Grase liegen, durch die Zweige in die Sonne blicken und zählen, wieviele Vögelein sich in den Ästen wiegen. Und dann kommt so ein rotwangiges Mädchen, mit nackten, runden, weichen Armen und braungebranntem Nacken. Sie senkt den Blick - der Schelm! - und lächelt... Wann endlich wird diese Zeit kommen?'" (96)


[1] Nachfolgend wird abgekürzt: D = Dobroljubow, N. A.: Was ist Oblomowtum?
[2] ".. die imstande war, Literatur und Kunst in umfassenden historischen Zusammenhängen, in der Einheit von Kunst und gesellschaftlichem Leben zu erblicken...."
[3] "Wozu soll er sich mit solchem Zeug abgeben!... Er ist - Herr." - Und wieder verfehlt der Kritiker das Oblomowtum, denn dieser Herrenzynismus, der noch nicht mal die Rolle spielt, die ihm zugeordnet wird, kann nur in Oblomows Stellung hervortreten und ist also in diesem Zusammenhang von nur geringem Interesse. Schon Lenins klassenübergreifende Ausweitung des Begriffs reagiert auf diese Einengung.
[4] "Eine übertriebene Heftigkeit im Planen, so als sei diese Übertreibung notwendig, um ihm die Kraft zur Verwirklichung zu geben; explosive Plötzlichkeit zu Beginn der Verwirklichung - und dann kehrt mit einem Schlage die Luzidität zurück: wozu das alles?" - Beschreibt das nicht den frühen Oblomow? Dabei ist das "der Rhythmus des Handelns bei Baudelaire" - einer westlichen, großstädtischen Inkarnation Oblomows an der wenigstens die kreative Kanalisierungspotenz sichtbar wird. Kann diese kongeniale Einschätzung Zufall sein? Schließt sich da nicht ein Kreis, wenn man weiß, dass es die Worte Sartres sind (Baudelaire 27ff.)? Vielmehr entdeckt Sartre in seinem von Antipathie getragenen Psychogramm, eine, in existentialistisches Vokabular gekleidete, Oblomow-Seele, deren vollkommen andersgeartete soziale Geschichte und Einbindung sie dann zwingt, als Poet zu leiden, um dieses Leid privat und literarisch zu funktionalisieren. Wenn Baudelaire zu vollkommen konträren Punkten gelangt, wenn er die Natur verabscheut, einen "Kult der Kälte" betreibt (64) und trotzdem Dandy und Fortschrittsgegner bleibt, dann ist das vor allem jenen Umständen anzurechnen.
[5] Es bedurfte schließlich erst des weltgewandten Anarchisten, um die Verquickung ad hominem mit dem Urrussischen des Wesens des Oblomowtums aufzuzeigen; Gontscharows Novelle "ist durch und durch russisch - so russisch sogar, dass nur ein Russe sie voll und ganz zu schätzen vermag; aber sie ist gleichzeitig allgemein menschlich, denn sie bereichert uns mit einem Typus, der fast so allgemein ist wie der Hamlets und Don Quijotes" (Kropotkin 155).
[6] nicht Gesellschaft! Hervorhebung J.S.
[7] vgl. Eine alltägliche Geschichte 72, 115, 231
[8] ...in dem der französische Existentialismus später den Ort des Absurden ausmachte: "Dieser Zwiespalt zwischen dem Mensch und seinem Leben...ist eigentlich das Gefühl der Absurdität" (Camus: Sisyphos 11). Überhaupt würde es wahrscheinlich der Mühe lohnen, in Oblomow den Vorreiter des Existentialismus zu suchen - und dessen Überwinder!
[9] Ob Wasserplätschern und Feldrain, Bergidyll oder Caribbean dream - heutzutage arbeitet man ein ganzes Jahr, um sich dann für zwei Wochen das Paradies leisten zu können
[10] "Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden."
"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion."
"...dass in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andre Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt..." Diese Äußerungen, die eine Kongruenz des utopischen Telos verdeutlichen, ohne die diskrepanten Mittel zu verschweigen, stammen - man wird es erkannt haben - von keinem anderen als Karl Marx. Die Idee durchzieht sein gesamtes Schaffen, und so konnte diese kleine, zwar willkürliche, aber durchaus repräsentative Kompilation Zitate sowohl aus dem Frühwerk "Die deutsche Ideologie" (MEW 3, 33 und 69f.) sowie dem dritten Band des Lebenswerkes "Das Kapital" (MEW 25, 828) anführen. Aber selbst wenn der Marx'sche oder sonst irgendein Utopismus abgelehnt wird, wie es ja seit Hans Jonas fast zum guten metaphysikkritischen Ton gehört, so würde die Nomenklatur des frühen Marx der Pariser Manuskripte, die, wie bereits angedeutet wurde, mit der Meister Eckharts sich berührt - im Primat des Seins vor dem Haben - Oblomows Traum wirklich adäquat wiedergeben, jenseits jenseitiger und spätzeitlicher Glücksversprechen.


 

Literatur:

Angelus Silesius: Aus dem Cherubinischen Wandersmann und anderen geistlichen Dichtungen. Stuttgart 1990

Belinski, Wissarion: Betrachtungen über die russische Literatur des Jahres 1847. in: Ausgewählte Philosophische Schriften, Moskau 1950

Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek 1992

Dobroljubow, N. A.: Was ist Oblomowtum? in: Ausgewählte philosophische Schriften. Moskau 1951.

Flaker, Aleksandar: Der russische Realismus. in: Propyläen Geschichte der Literatur V. Frankfurt/Berlin 1988. S. 347 - 370

Gontscharow, Iwan:

  • Oblomow. Leipzig/Weimar 1979
  • Eine alltägliche Geschichte. Berlin (Ost)

Gorbatschow, Michail: Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt. (Perestroika). Berlin (Ost) 1988

Kropotkin, Petr: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur. Frankfurt 1975

Lenin, Wladimir Iljitsch. Ein kurzer Abriss seines Lebens und Wirkens. Moskau 1947

Lenin: Lenin-Werke (LW). Berlin

Lukács, Georg: Die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik. Berlin/Weimar 1985

Marx, Karl/Engels Friedrich: Marx-Engels-Werke (MEW). Berlin (Ost)

Sartre, Jean Paul: Baudelaire. Reinbek 1986


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