Rhizom
von Jörg Seidel
...was in Wirklichkeit nicht darstellbar ist, weil es ein Rhizom ist,
eine unvorstellbare Globalität.
Umberto Eco
Die öffentlichen Reaktionen in Deutschland auf den
Tod von Gilles Deleuze waren höchst unterschiedlich, was sich anhand
des medialen Umgangs leicht nachvollziehen lässt. RTL etwa scheute
nicht davor zurück, in einer der kulturellen Legitimationssendungen
im Rahmen der Reihe "News und Stories" dem Philosophen eine
einstündige Sendung zu widmen - ein Gespräch, das Alexander
Kluge mit dem Übersetzer wichtiger deleuzescher Werke [1], Joseph
Vogl, führte. Und auch "Die Zeit" erachtete das Ereignis
als wert, ihm fast eine halbe Seite offenzuhalten, die der Leipziger
Philosoph Ulrich Johannes Schneider füllte, ebenfalls ein ausgewiesener
Kenner des Denkens von Foucault und Deleuze, und auch er hat sich als
Übersetzer verdient gemacht [2].
Anders dagegen der "Spiegel". Er widmete dem
Tod von Deleuze noch nicht mal eine ganze Spalte unter der Rubrik "Gestorben"
auf der vorletzten Seite. Mehr informativ als würdigend, ringt
man sich durch, doch wenigstens den Sprachwitz zu erwähnen und
erinnert an die eine oder andere gelungene Wortschöpfung des Denkers.
Im kontradiktorischen Gegensatz zum einstigen Euphemismus Foucaults [3]
resümiert der "Spiegel": "Mancher solcher Wort-Funde
wird in Erinnerung bleiben" - darüber, was von Deleuze und
dessen Denken bleiben kann. Man mag zu dieser Vergessensprognose stehen,
wie man will, unleugbar jedenfalls ist, dass der Terminus des "Rhizoms"
schon längst zu diesen Wort-Funden zählt.
Die Vokabel, die erstmals im vorab veröffentlichten
Vorwort zu "Tausend Plateaus" erscheint [4],
dürfte zur mittlerweile bekanntesten, wenn nicht populärsten
gehören, die fast schon identifikatorische Macht ausübt und
damit beginnt, die Zwecke ihrer Schöpfer zu überwuchern. Vielleicht
ist das auch ein Grund, weshalb Deleuze den Terminus später nicht
mehr aufnimmt. Spätestens seit Eco seinen Weltbestseller, die Zeichenwelt
des William von Baskerville und das ominöse Labyrinth als Rhizom,
rhizomförmig und Rhizom-Labyrinth kenntlich machte [5],
dürfte der Begriff geläufig geworden sein, hat er die Grenzen
esoterischer Kaderschmieden der Philosophie überschritten. Erneut
nach dem Rhizom zu fragen, kann sich also nur noch mit einem neuen Gegenstand
legitimieren. Bezeichnenderweise hat der Begriff sich längst vom
Werk von Deleuze und Guattari gelöst, man liest ihn allerorten,
im philosophischen Fachbuch ebenso wie in der philosophischen Belletristik,
in der Literatur nicht anders als im Rockmagazin, aber auffälligerweise
wird er selten mit Inhalt gefüllt, vielmehr beschränkt man
sich auf die biologische Metaphorik, auf informationstechnische Subsumierungen
oder glaubt einfach an den Zauber einer ungewöhnlichen Vokabel.
Nicht, dass damit einer Art Besitzanspruch des Begriffes im deleuzeschen
Sinn zugesprochen werden soll, so verliert er doch durch diesen laxen
Umgang an Schärfe, Aussagekraft, letztlich an Sinn. Es kann daher
nicht schaden, den Terminus textnah und pragmatisch-funktionell, zu
rekapitulieren. Sicher der Begriff des "Rhizoms" ist keine
ureigene Erfindung der beiden, er stammt aus der Botanik und benennt
einen Wurzeltyp bei bestimmten Pflanzen, der morphologisch eher als
Spross, Stängel oder Trieb beschrieben werden muss. Es kann sowohl
ober- als auch unterirdisch wuchern, treibt dabei ohne erkennbare Ordnung
Triebe, die Knoten bilden, aber auch sich kreuzen können. Was Wurzel,
was Trieb ist, bleibt unentschieden, beides steht in ständigem
Austausch mit der Umwelt. Schon strukturell vom Baum unterschieden,
ist es auch sich selbst nicht eindeutig identisch, d.h. es hat nicht
wie der Baum ein Größenwachstum, sondern stirbt, einmal eine
gewisse Größe erreicht, am alten Ende ebenso ab, wie es sich
am treibenden verjüngt, so dass es nach einiger Zeit ein vollkommen
anderes, erneuertes Gewächs darstellt.
Ein Missverständnis läge vor, wollte man das
Rhizom für die Philosophie als Metapher dingfest machen. Deleuze
hielt nie viel von Metaphern ("Wir machen absolut keinen metaphorischen
Gebrauch von diesen Begriffen... Wir meinen das so, wie wir es sagen:
buchstäblich". [6]), ja er zweifelte
sogar an deren Existenz [7]. Dagegen tritt
es in mehrfacher Bedeutung auf, die, wenn man sie auch voneinander differieren
kann, nicht immer voneinander zu trennen sind. So bildet das Rhizom
eine ontologische Kategorie, die die "Struktur" von Sein,
von Welt beschreibt. Wohlgemerkt, demnach ist die Welt nicht wie ein
Rhizom, sie ist ein Rhizom oder sie macht Rhizom, wie
die Autoren es nennen. Der ontologische Status der Rhizomatik wird durch
zahlreiche Analogien aus dem Naturbereich bestätigt, wenn etwa
die Quecke, das Unkraut bemüht wird, die Ameisen, Ratten, der Tierbau,
das Wespe-Werden der Orchidee und das Orchidee-Werden der Wespe, die
DNS und Viren bis hin - in der etwas erweiterten Fassung in "Tausend
Plateaus" - zur Hirnphysiologie und -anatomie [8].
"Die Natur geht so nicht vor" [9]
wie man bislang glaubte und in den verschiedensten Baummetaphern
sich vorzustellen hatte. Auch wenn die Natur als letzter Bezugspunkt
fungiert, so beschränkt man sich doch nicht auf sie, ist vielmehr
bemüht Phänomene außerhalb des natürlichen Bereichs
aufzuspüren, um das Rhizom zum einen verständlich, zum anderen
aber schon um selbst Rhizom zu machen. So kommt es, dass von Amsterdam,
Amerika, von Musik und Literatur, Bürokratie und Ökonomie,
Geographie und Geschichte die Rede ist.
Das Rhizom fungiert desweiteren als epistemologische Kategorie,
die den Vorgang des Denkens und damit des Erkennens beschreibt. Wichtig
ist hier die analogische Herangehensweise: "Der Baum und die Wurzel
zeichnen ein trauriges Bild des Denkens." (26) und später:
"Das Denken ist nicht baumförmig, und das Gehirn ist
weder eine verwurzelte noch eine verzweigte Materie" [10]. Der gesamte
Bereich des Buches in "Rhizom", der Agitation für ein
rhizomatisches Buch, ein rhizomatisches Lesen und Schreiben, aber auch
der geäußerten Aversion gegen die Metaphorik der Welt als
Buch und dem Buch als Wurzelbaum, spielt in die epistemologische Dimension
hinein. Insofern die epistemologische Kategorie die Wucherung in die
ontologische Kategorie forciert bzw. diesen Sachverhalt beschreibt,
und weil sie einander entsprechen, miteinander verwachsen sind, ist
das Rhizom auch als eine "moralische" oder eine imperativische
Kategorie, als eine Art umgekehrter kategorischer Imperativ auszumachen.
"Macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht,
stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! ... Lasst keinen
General in euch aufkommen!" (41).
Aber bevor die Idee des Rhizoms exemplifiziert wird, stecken
Deleuze und Guattari das Terrain ab, zeigen, wovon sich das Rhizom (als
Buch) absetzt. Da ist zum einen das Wurzelbuch, Welt und Denken als
Baum oder Wurzel gedacht, das die Idee der Klassik - von der Antike
bis Descartes, Kant und der hegelschen Dialektik - darstellt. Gemeinsames
Merkmal aller: "Die binäre Logik ist die Realität des
Wurzelbaums" (8), die weit in die Moderne (Chomskys syntagmatischer
Baum, Psychoanalyse) hineinreicht. Es ist das Denken der Einheit (selbst
wenn diese aus Gegensätzen besteht), des Ursprungs und der Identität,
das die Vielheiten noch nicht mal zu denken wagte, geschweige denn ihnen
gerecht wurde.
Anders dagegen "die büschelige Wurzel oder das
System der kleinen Wurzeln" (9), wie es die Moderne charakterisiert.
"Die Hauptwurzel ist (hier) verkümmert, ihr Ende abgestorben,
und schon beginnt eine Vielheit von Nebenwurzeln wild zu wuchern".
Wirklich anders? Deleuze und Guattari verneinten diese Frage und versuchen
darzulegen, dass das Büschelwurzelbuch an der entscheidenden Stelle
die Idee der Vielheit verfehlt, denn zwar vermag es - und ist durch
die gesellschaftliche "Entwicklung" auch dazu gezwungen -
die Vielfalt der Erscheinungen der äußeren Welt zu reflektieren,
aber nur, indem ein starkes identisches Subjekt dies leistet. Damit
ist nicht nur die Dualität des Denkens noch nicht beseitigt, sondern
"während die Einheit im Objekt fortwährend vereitelt
wird, triumphiert im Subjekt ein neuer Typ von Einheit" (40), statt
den klassischen Monismus prinzipiell aufzuheben, gelingt es lediglich,
den der objektiven Welt in Pluralismus zu wandeln, auf Kosten eines
noch zentralistischeren Subjekts, so dass sich im Umkehreffekt "eine
totalisierende Einheit dann um so mehr durchsetzt" (10). Das moderne
Denken gerät in einen Widerspruch, den die Autoren mit dem Begriff
des "Würzelchen - Chaosmos" verdeutlichen, in dem die
Antagonismen Chaos und Kosmos (Weltordnung) zusammengepresst werden.
Dass das durchaus legitim sein kann, wird noch zu sehen sein, nur kennt
das moderne Denken keine Möglichkeit, Grundverschiedenheit und
Zusammenhang zusammen, überhaupt Antinomien widerspruchslos zu
denken. Sich die Vielheit auf die Fahnen zu schreiben, reicht nicht
aus, man muss einen Schritt weitergehen, den Schritt zum Rhizom. "Es
genügt eben nicht zu rufen: Hoch lebe das Viele (multiple)! so
schwer es auch sein mag, diesen Schrei auszustoßen. ... Das Viele
(multiple) muss man machen..." (10f.) und sein. [11] Um zu verdeutlichen,
wie das zu bewerkstelligen sei, bieten die Verfasser eine Formel an:
"n 1 schreiben". Was heißt das? Wenn man über
das Viele schreiben möchte und dabei die chaosmische Selbstwidersprüchlichkeit,
die das Eine im Schreiben über das Viele neu konstituiert,
zu umgehen versucht, dann darf man eben nicht einheitlich, vollständig,
vollkommen, endgültig (versuchen) das Viele zur Sprache bringen,
sondern muss das Viele in die Sprache einführen und diese als Einheit
zerlegen. Das Viele tatsächlich zu thematisieren heißt, es
vielfältig zu tun und die Minimaldifferenz ist eben das Eine, das
davon abgezogen wird. Eine einheitliche Thematisierung des Vielen wird
also niemals selbst Vieles sein und machen. Und anders herum, man muss
immer eine Lücke lassen, immer ein Wort, einen Satz, eine Aussage
zu wenig machen, man muss vermeiden, den Text abzuschließen, abzurunden,
um ihn vielmehr offen zu halten, zu öffnen. Zu verhindern sei die
Ganzheit des Ganzen bei Gewährleistung der Ganzheit (Konsistenz)
des Vielen, der Teile. "Ein solches System" - wenn es denn
gelingt - "kann man Rhizom nennen" (11). Das schreit förmlich
nach positiver Bestimmung, denn bislang wurde hauptsächlich herausgearbeitet,
was ein Rhizom vom Wurzel- und Büschelwurzelmodell unterscheidet.
Zu dieser Einsicht gelangten auch die Verfasser, und sie beginnen nachfolgend
"wenigstens annäherungsweise bestimmte Merkmale des Rhizoms"
aufzuspüren, sechs an der Zahl, aber die Äußerung lässt
vermuten, dass es noch mehr geben könnte, ja eventuell sogar, dass
Deleuze und Guattari selbst sich nicht in der Lage sehen, alle zu benennen.
Erstes Prinzip ist das der Konnexion und zweites das der
Heterogenität, aber diese beiden werden als "1. und 2."
zusammen genannt, sie sind nur zusammen und zugleich zu denken. Das
mag - oberflächlich betrachtet - nach der dialektischen Figur des
Kampfes und der Einheit der Gegensätze klingen, jedoch darf man
nicht vergessen, dass es sich hier nicht um Negationsverhältnisse
handelt, sondern um Differenzen und dass zweitens die beiden Prinzipien
nicht punktuell zusammengepresst werden, sondern sich linear überschneiden.
"Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen
verbunden werden" (11). Dass damit ein Denkweg eröffnet wurde,
der grundlegende Denkschwierigkeiten und bislang ungelöste Probleme
auch in der sogenannten postmodernen Philosophie überwindet, hat,
am Beispiel Lyotards, Wolfgang Welsch deutlich gemacht, wonach rhizomatisches
Denken imstande ist, "das einzulösen, was sich zuletzt als
vernunfttheoretisches Desiderat herauskristallisiert hat: Differenzen
und Übergänge zu verbinden" [12]. Da wächst also nicht
zusammen, was vermeintlich zusammen gehört, nein, Rhizom machen
die Dinge vor allem "insofern sie heterogen sind" (17) - und
das auf allen Ebenen. "Ein Rhizom verknüpft unaufhörlich
semiotische Kettenteile, Machtorganisationen, Ereignisse in Kunst, Wissenschaft
und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht
einer Tuberkel, einer Agglomeration von mimischen und gestischen, Sprech-,
Wahrnehmungs- und Denkakten: es gibt keine Sprache an sich, keine Universalität
der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons
und Fachsprachen" (12). Die Bestandteile werden also nicht miteinander
vermischt, zu einem Amalgam vergossen, sondern bleiben - wenn freilich
nicht unverändert - als Heterogenität in der Konnexion erhalten,
sie werden eben nicht vereinigt (und auch nicht wiedervereinigt), sie
bleiben statt dessen als Vielheiten bestehen.
Das "Prinzip der Vielheit" ist das dritte interne
Charakteristikum des Rhizoms. Eine Vielheit - das substantivierte, nicht
mehr zuschreibbare Viele - "hat weder Subjekt noch Objekt; sie
wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen
und Dimensionen definiert, die nicht wachsen, ohne dass sie sich dabei
gleichzeitig verändert" (13). Das Rhizom ist folglich nicht
durch das Viele, durch viele Einzel- und Einheiten konstituiert, es
besteht vielmehr aus Dimensionen, deren Zahl sich erhöht, je mehr
Verbindungen, je mehr Kombinationen geschaltet, verkettet werden. "Eine
Verkettung ist gerade diese Zunahme der Dimensionen in einer Vielheit,
die sich in dem Maße automatisch verändert, in dem sich ihre
Konnexionen vermehren" (14). Diese Vieldimensionalität, die
sich zahlenmäßig ändern kann, und die permanente Veränderbarkeit
führen dazu, dass das Rhizom paradoxerweise "keine supplementäre
Dimension" kennt und andererseits, dass man es nicht durch den
bestimmten Artikel, der immer eine Einheit und Identität transportiert,
bezeichnen kann, ja noch nicht einmal der unbestimmte Artikel, der noch
immer ein gewisses Maß an Einheit stiftet, erweist sich als adäquat.
Das Rhizom, die Vielheiten werden "durch Teilungsartikel bezeichnet
(etwas Quecke, etwas Rhizom)" (15).
"Das Prinzip des asignifikanten Bruchs" besagt,
dass ein Rhizom an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört
werden kann, "es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien
weiter" (16). Hier müssen kausalistische, genealogische und
deterministische Vorstellungen verabschiedet werden, denn "Entwicklungen"
gibt es nur als nicht-, als aparallele. "Rhizom machen" heißt,
mit diesen Beziehungen zu brechen, um sie mit Hilfe transversaler Verbindungen
neu zu denken. So ist das Buch nicht etwa Bild der Welt, sondern "es
gibt eine aparallele Evolution von Buch und Welt", so ahmt die
Orchidee auch nicht die Wespe nach, sondern da treffen sich aparallele
Evolutionen, das Krokodil vollbringt keine mimetische Leistung, wenn
es dem Baumstamm im Wasser gleicht usw. usw. Etwas macht mit etwas
anderem "Rhizom machen". Dem Rhizom ist nicht zu entkommen.
"Weisheit der Pflanzen: auch wenn sie Wurzeln haben, gibt es immer
ein Außen, wo sie 'Rhizom machen' - mit dem Wind, mit einem Tier,
mit dem Menschen" (19). So besagt das Prinzip des asignifikanten
Bruches mehr, als dass Rhizome gebrochen werden können, insofern
auch das Rhizom in tradierte Verbindungen ein- und diese zerbricht.
Da dies vollkommen entsprechungsfrei und bezugslos geschieht, kann von
Asignifikanz gesprochen werden.
Blieben "5. und 6. - Prinzip der Kartographie und
Dekalkomonie" (20), das die Differenz zwischen Karte und Kopie
thematisiert. "Ein Rhizom ist keinem strukturalen oder generativen
Modell verpflichtet. Es kennt keine genetischen Achsen oder Tiefenstrukturen"
(20), die dagegen als Prinzipien der Kopie zu gelten haben. Das Wesentliche
der Karte ist ihre Offenheit, "sie kann in allen ihren Dimensionen
verbunden, demontiert und umgekehrt werden, sie ist ständig modifizierbar"
(21). Während die Kopie als Baum- oder Wurzelprinzip sich immer
nur selbst reproduziert, aus eins zwei macht, letztlich also "immer
'auf das Gleiche' hinausläuft" (22), setzt die Karte auf die
schier unbegrenzbare Zahl ihrer Ein-, Aus- und Umgänge: "Man
kann sie zerreißen und umkehren; sie kann sich Montagen aller
Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe oder gesellschaftlichen
Formation angelegt werden. Man kann sie auf Mauern zeichnen, als Kunstwerk
begreifen, als politische Aktion oder als Meditation konstruieren. Vielleicht
ist es eines der wichtigsten Merkmale des Rhizoms, viele Eingänge
zu haben; " (21).
Natürlich ruft ein so unerwartetes, neues und verunsicherndes
Denken Kritiken hervor, immerhin stellt es alte Wissenschaftstraditionen
zur Disposition und reißt sie in eine Legitimationskrise. So gesehen
wurde wohl zu Recht vom "Paradigma des Rhizoms" [13] gesprochen,
aber der Paradigmenbegriff ist seit Kuhns paradigmatischer "Struktur
der wissenschaftlichen Revolutionen" [14] nicht mehr frei verfügbar.
Eine dieser Kritiken verdient besondere Beachtung, weil sie nicht aus
"konservativer" Position heraus ansetzt, weil sie sich also
nicht selbst verteidigen muss und weil sie von einem Denker stammt,
den man oft noch in einem Atemzug mit Deleuze, Foucault, Derrida - kurz,
den Postmodernen - nennt. Die Schelte Baudrillards ist als Kritik "von
vorn" besonders aufschlussreich, beruft sie sich doch statt auf
ein "zu viel" oder "zu weit" auf ein "zu kurz".
Schon ein Jahr nach Erscheinen von "Rhizom" antwortet Baudrillard
mit einer kleinen Schrift, die den programmatischen Titel "Oublier
Foucault" [15] trägt, auch auf das Büchlein von Deleuze und
Guattari. Zum einen wirft er den beiden vor, nach dem Ende der theologischen
und teleologischen Macht, die Teleonomie - quasi als immanente, affirmative
Eschatologie - an deren Stelle gehievt und damit die Struktur wieder
eingeführt zu haben, zum anderen beunruhigt ihn "eine merkwürdige
Komplizenschaft mit der Kybernetik" [16]. In der Tat gehen Deleuzens
rhizomatische Vorstellungen, die man auch als Netzwerk zu begreifen
versuchte, mit den technischen Mechanismen konform, bestätigen
mit dieser Kompatibilität eine Entwicklung, die nicht nur für
Baudrillard unerträglich ist. Andererseits ist nicht ganz auszumachen,
wieso die reine Deskription - vom imperativischen Teil abgesehen - Destruktivismen
und Negativismen forcieren sollte, ja, es ist sogar fraglich, ob der
megamaschinelle status quo überhaupt propagiert wird. Baudrillard
freilich geht von dieser Konsequenz aus. "Genau diese geheime Übereinstimmung
muss deutlich (und lächerlich) gemacht werden. Heutzutage gilt
es als chic und revolutionär, sich im Molekularen herumzutreiben"
[17]. Letztlich ist aber auch er nicht vor der Apodiktizität gefeit,
wenn er, möglicherweise mit ironischem Unterton, zusammenfasst:
"Eine weitere Spiralwindung der Macht, des Wunsches und des Moleküls,
die uns diesmal endgültig und unverhüllt mit der absoluten
Kontrolle konfrontiert. Hütet euch vor dem Molekularen" [18].
Vielleicht ließe sich eine Annäherung erreichen, wenn man,
statt vom auf-der-Hut-sein, vom gesunden Misstrauen spricht, und dieses
scheint in der Tat angebracht. Gerade dem Paradigmatischen des Rhizoms
ist zu misstrauen...
Dass etwas ein Rhizom ist, kann nicht heißen, alle
rhizomatischen Bestandteile auffinden zu wollen, denn selbstredend enthält,
auf der einen Seite, die Idee des Rhizoms einen gewissen idealtypischen
Anteil - der Rattenbau z.B. ist streng betrachtet durchaus kein (reines)
Rhizom - auf der anderen Seite beinhaltet jegliches Rhizom auch Baum-
und Wurzelstrukturen, auch Strukturen jenseits der angedeuteten Charakteristika;
es ist damit mehr als ein Rhizom, ebenso wie es weniger ist.
Am Auffälligsten dürfte die als Vernetzung,
partiell als Puzzle - durchaus auch im Doppelsinne von zu Verbindendem
und Rätsel - auftretende Gesamtkonstellation innerhalb eines Werkes
sein, die weder beliebig funktioniert noch gewalttätige Vereinnahmungen
und Verabsolutierungen gestattet [19]. Es wäre also, um dies zusammenzufassen,
möglich - sofern das überhaupt möglich ist - die reinen
Phänomene rhizomartig zu strukturieren, aber es wäre auch
überflüssig, denn das Rhizom strukturiert, schafft sich selbst,
so dass es vollkommen ausreicht, an die Wahrnehmung und an den Willen
zur Wahrnehmung des Rezipienten zu appellieren. Die ist insofern gegeben,
als die Emanationen alle in einem Punkt sich bündeln, nämlich
in ihrem Schöpfer - das kann nie anders sein -, aber der selbst
ist nicht der klassische Identitätstyp. "Jeder beliebige Punkt
eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden",
schrieb Deleuze, und man wird nicht umhin können, hier Abstriche
zu machen, denn ob tatsächlich jeder beliebige Punkt mit
jedem anderen zu verbinden ist, bleibt sicher fraglich, aber
das muss nun nicht als Defizit entziffert werden. Vielmehr scheint es
doch so, dass gerade dieses "jeder" und auch dieses "muss"
ob ihrer Absolutheit gewisse totalitäre Tendenzen - nicht zu verwechseln
mit den Vorwürfen von Welsch - andeuten. Nichtsdestotrotz ist es
möglich, nahezu jeden beliebigen Punkt des Rhizoms mit nahezu
jedem anderen zu verbinden, in den verschiedensten Dimensionen aufeinander
zu beziehen, auch in Hinblick auf die "verschiedenen Codierungsarten",
die den Philosophen vorschwebten. Das heißt, "in einem Rhizom
verweist nicht jeder Strang notwendig auf einen linguistischen Strang:
semiotische Kettenglieder aller Art sind dort nach den verschiedensten
Codierungsarten mit politischen, ökonomischen und biologischen
Kettengliedern verknüpft; es werden also nicht nur ganz unterschiedliche
Zeichensysteme ins Spiel gebracht, sondern auch verschiedene Arten von
Sachverhalten" (12).
So jedenfalls ließen sich die rhizomatischen Strukturen
- diesbezüglich vergleichbar mit den sich selbst ähnlichen
Strukturen, auf die Prigogine verwies - bis in die kleinsten Verästelungen
nachvollziehen, bis auf die Ebene des Molekularen, des mikroanalytischen
Bereichs zurückverfolgen.
Ihr Äquivalent im "großen und ganzen"
lässt sich nicht minder aufzeigen. Man könnte darunter etwa
jenes "Verfahren" sehen, das Deleuze und Guattari mit "n
1 schreiben" wiedergaben, also das Machen des Vielen mit
Hilfe der Auslassung des Einen, sprich die Unvollständigkeit. Eben
der Verlockung widerstehen, ein Großes und ein Ganzes herzustellen!
Nichts abrunden, nichts abschließen. Nicht die Form, die Systematik
zum Diktator machen, nicht den Inhalt in Form gießen, sondern
frei fließen lassen, "es" seinen Weg nehmen lassen und
nicht furchtsame Verantwortlichkeiten konstruieren. Der Inhalt ist schon
eine Form, und er hat seine eigene Systematik. Dies als schön empfinden
zu können, ist keineswegs eine Frage kategorialer Apriorismen oder
Transzendentalitäten, es ist eine Frage des Willens zur Wahrnehmung,
eine Frage der Affirmation. Insofern ist auch der Werk-Begriff, der
bislang unbekümmert genutzt wurde, fehl am Platze, er kann nicht
mehr als eine Hilfsvokabel sein, denn gerade darum geht es, kein Werk
zu schaffen, statt dessen zu werken. Wo das Werk sich tendenziell konstituiert,
sich in Form gießt, zur Einheit gerinnt, muss es permanent hinterfragt
werden, und nötigenfalls muss man derartigen Prozessen aktiv entgegenwirken.
Dies ist innerhalb der Darstellung mit Hilfe des Prinzips des Bruchs
möglich, um Ganzheiten, Schönheiten, Feinheiten meist dann
zu zerstören, wenn sie am schönsten sind. Erwartungen sind
im Rhizom einzig dazu da, enttäuscht zu werden. Der Bruch kann
dabei die verschiedensten Variationen erfahren, er kann ein Abbruch,
ein Einbruch oder Umbruch sein, er kann als Schnitt, Knick oder Knacks,
als Falte oder Welle daherkommen, er kann das Ende oder einen Anfang
bedeuten, er kann Riss oder Spalt, Kluft oder Hiatus sein, und er vermag
sogar als Brücke zu fungieren, dann nämlich, wenn er erwartet
wird, wenn das Prinzip des Bruchs zu brechen ist. Entscheidend ist einzig,
nie alles zu sagen, sagen zu wollen. Dieses quasi-systematische Verfehlen
eines Aussagesinns (oder einer Aussageform), eröffnet durch seine
Absenz einen weitgefächerten assoziativen Raum voller möglicher
Bedeutungen. So kann nur jemand sprechen, der das postmoderne Dilemma
des Sprechens begriffen hat. Das "Problem der Schrift: nur mit
ungenauen Ausdrücken kann man etwas genau bezeichnen. Nicht, weil
man da hindurch müsste oder immer nur durch Annäherungen vorankäme:
die Ungenauigkeit ist keineswegs eine Annäherung, sie ist im Gegenteil
der genaue Verlauf der Ereignisse" (33).
Rhizomorphe Bücher:
Das alles gilt auch in Bezug auf die Außenseite
des Werkes. "Der abendländische Leser wartet auf das Schlusswort"
[20], und just diese Erwartung ist zu enttäuschen. Es ist, mit Botho
Strauß, von Beginnlosigkeit die Rede und folglich auch von Endlosigkeit.
Die Verwunderung darüber ist nichts anderes als der Hinweis, dass
hier die Grenzen verschwimmen, dass hier Rhizom gemacht wird. Rhizmorphe
Bücher beginnen nicht, sie sind einfach da, sie entbehren phasenweise
der Sukzession und oftmals wird mit der Gleichzeitigkeit gespielt. Vor
allem aber haben sie, im Gegensatz zum Wurzelbuch, keinen Plot, sind
weitestgehend plan- und ideenlos [21]. Die Bücher selbst sind rhizomorphe
Bücher [22], wie das Werk rhizomorph ist. Daher enden sie auch nicht,
sondern sie sind einfach nicht mehr da, eher als vollführten sie
eine substantielle Veränderung, als entglitten sie in die vierte
Dimension, als dass sie abgeschlossen wären. Sie sind, wenn man
so will, im Sinne des Wortes, geil. Auch der Begriff der Geilheit ist
ursächlich ein botanischer, wo er als Synonym für wuchern
gilt. Die geile Pflanze wächst üppig, treibt kräftig,
schlingt wild, wuchert - sie macht Rhizom wie: "eine Rose ist eine
Rose ist eine Rose...".
Schizo und Nomade:
"Jede Vielheit", schreiben Deleuze und Guattari,
"die mit anderen durch an der Oberfläche verlaufende unterirdische
Stängel verbunden werden kann, so dass sich ein Rhizom bildet und
ausbreitet, nennen wir Plateau. Wir schreiben dieses Buch als
Rhizom" (35). In erster Linie bezieht sich diese Aussage natürlich
auf das Buch "Tausend Plateaus", als dessen Vorwort das kleine
Rhizom-Büchlein fungierte, doch ist hier von "jeder"
Vielheit die Rede. Eines der grundlegenden Charakteristika des zweiten
Teils von "Kapitalismus und Schizophrenie" ist die (versuchte)
Aufhebung der Sukzessivität und Linearität des Textes, der
wiederum auch in seinen Bestandteilen als gleichzeitig gelesen werden
kann.
Das lässt sich, um hier anzuknüpfen, auch auf
die anthropologische und psychologische Ebene anwenden, es findet auch
da seine Korrelate. Die Figur des "Schizo" gehört zu
den Zentralgestalten des Denkens von Deleuze und Guattari. Es ist die
Figur, die ihr "mehrere-sein" bejaht und die deshalb nicht
mit dem klassischen Schizophrenen der Psychoanalyse zu verwechseln ist,
der unter seiner Spaltung leidet und sie einem Leid "verdankt".
Deshalb sind die Probleme des Schizos "wenigstens wirkliche Probleme,
nicht Probleme von Neurotikern" (51). Er stellt seine Identität
immer wieder zur Disposition, er wechselt sie und spielt mit ihr, ohne
je zur identitätslosen Masse zu verkommen. Schon Nietzsche warnte:
Verwechselt mich nicht! Er, der Schizo, ist der Eine, der Viele ist,
mit vielen Stimmen spricht, mit den Maskierungen spielt, er ist immer
unterwegs - und verfehlt, weil er keines mehr hat, stets sein Ziel,
mehr noch, dieses Verfehlen selbst ist das Ziel: "dicht daran vorbeistreifen,
das ist das Schizo-Gesetz" [23].
Die anthropologische Entsprechung ist der Nomade. "RHIZOMATIK
= NOMADOLOGIE" (37), fassen der Philosoph und der Psychoanalytiker
lakonisch zusammen. Der "Nomadologie" ist in "Tausend
Plateaus" ein "zentrales" Kapitel gewidmet. Der Mensch
hat, wie Dietmar Kamper einmal so einfach wie überzeugend anführte,
keine Wurzeln, sondern Füße, sein stetiges Unterwegssein
entspricht seiner Natur, seinem Wesen, wenn man so will. Der Weg des
Nomaden führt nicht von A nach B; jenseits moderner Mobilitätsillusionen
kennt er keinen Ziel-Ort - etwas, wovon der Fahrer immer noch
träumt -, denn es ist allein der Weg, der sein Ziel ist. Dieser
fügt sich den natürlichen Gegebenheiten: dort, wo das Leben
ist, ist der Nomade. So stiftet er ständig neue, unerwartete Verbindungen,
lebt eher in einem topologischen denn geschichtlichen Raum, hat eine
größere Geographie als eine längere Geschichte. "Dabei
kennen die Nomaden durchaus Punkte, zu denen sie 'immer wieder gerne'
zurückkommen. Nomadisches Denken erlaubt es durchaus, immer wieder
einmal beispielsweise zu Kant zurückzukommen oder an ihm vorbeizukommen.
Aber was ihm zutiefst zuwider wäre, wäre ein Denken, das einen
'Standpunkt' hätte, von dem aus gefälligst gedacht werden
müsste und für den dann jeweils die dezisionistische Irrationalität
gelten müsste: hier stehe ich, ich kann nicht anders. Statt seiner
gilt im nomadischen Denken die postmoderne Parole: hier stehe ich -
ich kann auch noch ganz anders" [24]. Es ist dann nur folgerichtig,
wenn Welsch mit Bezug auf die Vernunft die Transversalität als
"Modus von Übergängen" gerade anhand der Nomadologie
einführt, ist es doch der Nomade, der die Gegensätze verknüpft,
und zwar nicht (nur) in paradoxaler Form, um sie so - ohne viel Aufhebens
- geil wuchern zu lassen. "Lieber ein unmerklicher Bruch als ein
signifikanter Schnitt. Die Geschichte hat nie das Nomadentum begriffen.
Für diejenigen schreiben, die nicht lesen können" (39).
Wenn es aber das Signum des Nomaden ist, das Denken nicht
als Ort, sondern als Weg zu begreifen, wenn er sich also im Zustand
des Werdens statt des Seins befindet, dann wird statt des Ergebnisses
die Bewegung zum Kriterium, dann kann nicht nach Vollkommenheit, Perfektion
oder gar Richtigkeit gefragt werden, sondern muss die Originalität,
Kreativität und die Wichtigkeit über den Wert eines Denkens
entscheiden. In der Tat nähert sich dadurch der Philosoph dem Künstler
mehr an, wie er sich vom strengen Wissenschaftler unterscheidet, und
umgekehrt hat der Künstler die Möglichkeit erhalten, zum Philosophen
zu werden. Nicht wie ein Philosoph soll der Künstler werden - das
gerade nicht! - vielmehr steht die Aufgabe eines Philosoph-Werdens des
Künstlers und des Künstler-Werdens des Philosophen.
© Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und
darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter
verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Letzte Änderung
dieser Seite:
13.12.2022
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