Rhizom

von Jörg Seidel


...was in Wirklichkeit nicht darstellbar ist, weil es ein Rhizom ist, eine unvorstellbare Globalität.

Umberto Eco


Die öffentlichen Reaktionen in Deutschland auf den Tod von Gilles Deleuze waren höchst unterschiedlich, was sich anhand des medialen Umgangs leicht nachvollziehen lässt. RTL etwa scheute nicht davor zurück, in einer der kulturellen Legitimationssendungen im Rahmen der Reihe "News und Stories" dem Philosophen eine einstündige Sendung zu widmen - ein Gespräch, das Alexander Kluge mit dem Übersetzer wichtiger deleuzescher Werke [1], Joseph Vogl, führte. Und auch "Die Zeit" erachtete das Ereignis als wert, ihm fast eine halbe Seite offenzuhalten, die der Leipziger Philosoph Ulrich Johannes Schneider füllte, ebenfalls ein ausgewiesener Kenner des Denkens von Foucault und Deleuze, und auch er hat sich als Übersetzer verdient gemacht [2].

Anders dagegen der "Spiegel". Er widmete dem Tod von Deleuze noch nicht mal eine ganze Spalte unter der Rubrik "Gestorben" auf der vorletzten Seite. Mehr informativ als würdigend, ringt man sich durch, doch wenigstens den Sprachwitz zu erwähnen und erinnert an die eine oder andere gelungene Wortschöpfung des Denkers. Im kontradiktorischen Gegensatz zum einstigen Euphemismus Foucaults [3] resümiert der "Spiegel": "Mancher solcher Wort-Funde wird in Erinnerung bleiben" - darüber, was von Deleuze und dessen Denken bleiben kann. Man mag zu dieser Vergessensprognose stehen, wie man will, unleugbar jedenfalls ist, dass der Terminus des "Rhizoms" schon längst zu diesen Wort-Funden zählt.

 

Die Vokabel, die erstmals im vorab veröffentlichten Vorwort zu "Tausend Plateaus" erscheint [4], dürfte zur mittlerweile bekanntesten, wenn nicht populärsten gehören, die fast schon identifikatorische Macht ausübt und damit beginnt, die Zwecke ihrer Schöpfer zu überwuchern. Vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb Deleuze den Terminus später nicht mehr aufnimmt. Spätestens seit Eco seinen Weltbestseller, die Zeichenwelt des William von Baskerville und das ominöse Labyrinth als Rhizom, rhizomförmig und Rhizom-Labyrinth kenntlich machte [5], dürfte der Begriff geläufig geworden sein, hat er die Grenzen esoterischer Kaderschmieden der Philosophie überschritten. Erneut nach dem Rhizom zu fragen, kann sich also nur noch mit einem neuen Gegenstand legitimieren. Bezeichnenderweise hat der Begriff sich längst vom Werk von Deleuze und Guattari gelöst, man liest ihn allerorten, im philosophischen Fachbuch ebenso wie in der philosophischen Belletristik, in der Literatur nicht anders als im Rockmagazin, aber auffälligerweise wird er selten mit Inhalt gefüllt, vielmehr beschränkt man sich auf die biologische Metaphorik, auf informationstechnische Subsumierungen oder glaubt einfach an den Zauber einer ungewöhnlichen Vokabel. Nicht, dass damit einer Art Besitzanspruch des Begriffes im deleuzeschen Sinn zugesprochen werden soll, so verliert er doch durch diesen laxen Umgang an Schärfe, Aussagekraft, letztlich an Sinn. Es kann daher nicht schaden, den Terminus textnah und pragmatisch-funktionell, zu rekapitulieren. Sicher der Begriff des "Rhizoms" ist keine ureigene Erfindung der beiden, er stammt aus der Botanik und benennt einen Wurzeltyp bei bestimmten Pflanzen, der morphologisch eher als Spross, Stängel oder Trieb beschrieben werden muss. Es kann sowohl ober- als auch unterirdisch wuchern, treibt dabei ohne erkennbare Ordnung Triebe, die Knoten bilden, aber auch sich kreuzen können. Was Wurzel, was Trieb ist, bleibt unentschieden, beides steht in ständigem Austausch mit der Umwelt. Schon strukturell vom Baum unterschieden, ist es auch sich selbst nicht eindeutig identisch, d.h. es hat nicht wie der Baum ein Größenwachstum, sondern stirbt, einmal eine gewisse Größe erreicht, am alten Ende ebenso ab, wie es sich am treibenden verjüngt, so dass es nach einiger Zeit ein vollkommen anderes, erneuertes Gewächs darstellt.

Ein Missverständnis läge vor, wollte man das Rhizom für die Philosophie als Metapher dingfest machen. Deleuze hielt nie viel von Metaphern ("Wir machen absolut keinen metaphorischen Gebrauch von diesen Begriffen... Wir meinen das so, wie wir es sagen: buchstäblich". [6]), ja er zweifelte sogar an deren Existenz [7]. Dagegen tritt es in mehrfacher Bedeutung auf, die, wenn man sie auch voneinander differieren kann, nicht immer voneinander zu trennen sind. So bildet das Rhizom eine ontologische Kategorie, die die "Struktur" von Sein, von Welt beschreibt. Wohlgemerkt, demnach ist die Welt nicht wie ein Rhizom, sie ist ein Rhizom oder sie macht Rhizom, wie die Autoren es nennen. Der ontologische Status der Rhizomatik wird durch zahlreiche Analogien aus dem Naturbereich bestätigt, wenn etwa die Quecke, das Unkraut bemüht wird, die Ameisen, Ratten, der Tierbau, das Wespe-Werden der Orchidee und das Orchidee-Werden der Wespe, die DNS und Viren bis hin - in der etwas erweiterten Fassung in "Tausend Plateaus" - zur Hirnphysiologie und -anatomie [8]. "Die Natur geht so nicht vor" [9] – wie man bislang glaubte und in den verschiedensten Baummetaphern sich vorzustellen hatte. Auch wenn die Natur als letzter Bezugspunkt fungiert, so beschränkt man sich doch nicht auf sie, ist vielmehr bemüht Phänomene außerhalb des natürlichen Bereichs aufzuspüren, um das Rhizom zum einen verständlich, zum anderen aber schon um selbst Rhizom zu machen. So kommt es, dass von Amsterdam, Amerika, von Musik und Literatur, Bürokratie und Ökonomie, Geographie und Geschichte die Rede ist.

Das Rhizom fungiert desweiteren als epistemologische Kategorie, die den Vorgang des Denkens und damit des Erkennens beschreibt. Wichtig ist hier die analogische Herangehensweise: "Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens." (26) und später: "Das Denken ist nicht baumförmig, und das Gehirn ist weder eine verwurzelte noch eine verzweigte Materie" [10]. Der gesamte Bereich des Buches in "Rhizom", der Agitation für ein rhizomatisches Buch, ein rhizomatisches Lesen und Schreiben, aber auch der geäußerten Aversion gegen die Metaphorik der Welt als Buch und dem Buch als Wurzelbaum, spielt in die epistemologische Dimension hinein. Insofern die epistemologische Kategorie die Wucherung in die ontologische Kategorie forciert bzw. diesen Sachverhalt beschreibt, und weil sie einander entsprechen, miteinander verwachsen sind, ist das Rhizom auch als eine "moralische" oder eine imperativische Kategorie, als eine Art umgekehrter kategorischer Imperativ auszumachen. "Macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! ... Lasst keinen General in euch aufkommen!" (41).

Aber bevor die Idee des Rhizoms exemplifiziert wird, stecken Deleuze und Guattari das Terrain ab, zeigen, wovon sich das Rhizom (als Buch) absetzt. Da ist zum einen das Wurzelbuch, Welt und Denken als Baum oder Wurzel gedacht, das die Idee der Klassik - von der Antike bis Descartes, Kant und der hegelschen Dialektik - darstellt. Gemeinsames Merkmal aller: "Die binäre Logik ist die Realität des Wurzelbaums" (8), die weit in die Moderne (Chomskys syntagmatischer Baum, Psychoanalyse) hineinreicht. Es ist das Denken der Einheit (selbst wenn diese aus Gegensätzen besteht), des Ursprungs und der Identität, das die Vielheiten noch nicht mal zu denken wagte, geschweige denn ihnen gerecht wurde.

Anders dagegen "die büschelige Wurzel oder das System der kleinen Wurzeln" (9), wie es die Moderne charakterisiert. "Die Hauptwurzel ist (hier) verkümmert, ihr Ende abgestorben, und schon beginnt eine Vielheit von Nebenwurzeln wild zu wuchern". Wirklich anders? Deleuze und Guattari verneinten diese Frage und versuchen darzulegen, dass das Büschelwurzelbuch an der entscheidenden Stelle die Idee der Vielheit verfehlt, denn zwar vermag es - und ist durch die gesellschaftliche "Entwicklung" auch dazu gezwungen - die Vielfalt der Erscheinungen der äußeren Welt zu reflektieren, aber nur, indem ein starkes identisches Subjekt dies leistet. Damit ist nicht nur die Dualität des Denkens noch nicht beseitigt, sondern "während die Einheit im Objekt fortwährend vereitelt wird, triumphiert im Subjekt ein neuer Typ von Einheit" (40), statt den klassischen Monismus prinzipiell aufzuheben, gelingt es lediglich, den der objektiven Welt in Pluralismus zu wandeln, auf Kosten eines noch zentralistischeren Subjekts, so dass sich im Umkehreffekt "eine totalisierende Einheit dann um so mehr durchsetzt" (10). Das moderne Denken gerät in einen Widerspruch, den die Autoren mit dem Begriff des "Würzelchen - Chaosmos" verdeutlichen, in dem die Antagonismen Chaos und Kosmos (Weltordnung) zusammengepresst werden. Dass das durchaus legitim sein kann, wird noch zu sehen sein, nur kennt das moderne Denken keine Möglichkeit, Grundverschiedenheit und Zusammenhang zusammen, überhaupt Antinomien widerspruchslos zu denken. Sich die Vielheit auf die Fahnen zu schreiben, reicht nicht aus, man muss einen Schritt weitergehen, den Schritt zum Rhizom. "Es genügt eben nicht zu rufen: Hoch lebe das Viele (multiple)! so schwer es auch sein mag, diesen Schrei auszustoßen. ... Das Viele (multiple) muss man machen..." (10f.) und sein. [11] Um zu verdeutlichen, wie das zu bewerkstelligen sei, bieten die Verfasser eine Formel an: "n – 1 schreiben". Was heißt das? Wenn man über das Viele schreiben möchte und dabei die chaosmische Selbstwidersprüchlichkeit, die das Eine im Schreiben über das Viele neu konstituiert, zu umgehen versucht, dann darf man eben nicht einheitlich, vollständig, vollkommen, endgültig (versuchen) das Viele zur Sprache bringen, sondern muss das Viele in die Sprache einführen und diese als Einheit zerlegen. Das Viele tatsächlich zu thematisieren heißt, es vielfältig zu tun und die Minimaldifferenz ist eben das Eine, das davon abgezogen wird. Eine einheitliche Thematisierung des Vielen wird also niemals selbst Vieles sein und machen. Und anders herum, man muss immer eine Lücke lassen, immer ein Wort, einen Satz, eine Aussage zu wenig machen, man muss vermeiden, den Text abzuschließen, abzurunden, um ihn vielmehr offen zu halten, zu öffnen. Zu verhindern sei die Ganzheit des Ganzen bei Gewährleistung der Ganzheit (Konsistenz) des Vielen, der Teile. "Ein solches System" - wenn es denn gelingt - "kann man Rhizom nennen" (11). Das schreit förmlich nach positiver Bestimmung, denn bislang wurde hauptsächlich herausgearbeitet, was ein Rhizom vom Wurzel- und Büschelwurzelmodell unterscheidet. Zu dieser Einsicht gelangten auch die Verfasser, und sie beginnen nachfolgend "wenigstens annäherungsweise bestimmte Merkmale des Rhizoms" aufzuspüren, sechs an der Zahl, aber die Äußerung lässt vermuten, dass es noch mehr geben könnte, ja eventuell sogar, dass Deleuze und Guattari selbst sich nicht in der Lage sehen, alle zu benennen.

 

Erstes Prinzip ist das der Konnexion und zweites das der Heterogenität, aber diese beiden werden als "1. und 2." zusammen genannt, sie sind nur zusammen und zugleich zu denken. Das mag - oberflächlich betrachtet - nach der dialektischen Figur des Kampfes und der Einheit der Gegensätze klingen, jedoch darf man nicht vergessen, dass es sich hier nicht um Negationsverhältnisse handelt, sondern um Differenzen und dass zweitens die beiden Prinzipien nicht punktuell zusammengepresst werden, sondern sich linear überschneiden. "Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden" (11). Dass damit ein Denkweg eröffnet wurde, der grundlegende Denkschwierigkeiten und bislang ungelöste Probleme auch in der sogenannten postmodernen Philosophie überwindet, hat, am Beispiel Lyotards, Wolfgang Welsch deutlich gemacht, wonach rhizomatisches Denken imstande ist, "das einzulösen, was sich zuletzt als vernunfttheoretisches Desiderat herauskristallisiert hat: Differenzen und Übergänge zu verbinden" [12]. Da wächst also nicht zusammen, was vermeintlich zusammen gehört, nein, Rhizom machen die Dinge vor allem "insofern sie heterogen sind" (17) - und das auf allen Ebenen. "Ein Rhizom verknüpft unaufhörlich semiotische Kettenteile, Machtorganisationen, Ereignisse in Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht einer Tuberkel, einer Agglomeration von mimischen und gestischen, Sprech-, Wahrnehmungs- und Denkakten: es gibt keine Sprache an sich, keine Universalität der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen" (12). Die Bestandteile werden also nicht miteinander vermischt, zu einem Amalgam vergossen, sondern bleiben - wenn freilich nicht unverändert - als Heterogenität in der Konnexion erhalten, sie werden eben nicht vereinigt (und auch nicht wiedervereinigt), sie bleiben statt dessen als Vielheiten bestehen.

Das "Prinzip der Vielheit" ist das dritte interne Charakteristikum des Rhizoms. Eine Vielheit - das substantivierte, nicht mehr zuschreibbare Viele - "hat weder Subjekt noch Objekt; sie wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, die nicht wachsen, ohne dass sie sich dabei gleichzeitig verändert" (13). Das Rhizom ist folglich nicht durch das Viele, durch viele Einzel- und Einheiten konstituiert, es besteht vielmehr aus Dimensionen, deren Zahl sich erhöht, je mehr Verbindungen, je mehr Kombinationen geschaltet, verkettet werden. "Eine Verkettung ist gerade diese Zunahme der Dimensionen in einer Vielheit, die sich in dem Maße automatisch verändert, in dem sich ihre Konnexionen vermehren" (14). Diese Vieldimensionalität, die sich zahlenmäßig ändern kann, und die permanente Veränderbarkeit führen dazu, dass das Rhizom paradoxerweise "keine supplementäre Dimension" kennt und andererseits, dass man es nicht durch den bestimmten Artikel, der immer eine Einheit und Identität transportiert, bezeichnen kann, ja noch nicht einmal der unbestimmte Artikel, der noch immer ein gewisses Maß an Einheit stiftet, erweist sich als adäquat. Das Rhizom, die Vielheiten werden "durch Teilungsartikel bezeichnet (etwas Quecke, etwas Rhizom)" (15).

"Das Prinzip des asignifikanten Bruchs" besagt, dass ein Rhizom an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden kann, "es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter" (16). Hier müssen kausalistische, genealogische und deterministische Vorstellungen verabschiedet werden, denn "Entwicklungen" gibt es nur als nicht-, als aparallele. "Rhizom machen" heißt, mit diesen Beziehungen zu brechen, um sie mit Hilfe transversaler Verbindungen neu zu denken. So ist das Buch nicht etwa Bild der Welt, sondern "es gibt eine aparallele Evolution von Buch und Welt", so ahmt die Orchidee auch nicht die Wespe nach, sondern da treffen sich aparallele Evolutionen, das Krokodil vollbringt keine mimetische Leistung, wenn es dem Baumstamm im Wasser gleicht usw. usw. Etwas macht mit etwas anderem "Rhizom machen". Dem Rhizom ist nicht zu entkommen. "Weisheit der Pflanzen: auch wenn sie Wurzeln haben, gibt es immer ein Außen, wo sie 'Rhizom machen' - mit dem Wind, mit einem Tier, mit dem Menschen" (19). So besagt das Prinzip des asignifikanten Bruches mehr, als dass Rhizome gebrochen werden können, insofern auch das Rhizom in tradierte Verbindungen ein- und diese zerbricht. Da dies vollkommen entsprechungsfrei und bezugslos geschieht, kann von Asignifikanz gesprochen werden.

Blieben "5. und 6. - Prinzip der Kartographie und Dekalkomonie" (20), das die Differenz zwischen Karte und Kopie thematisiert. "Ein Rhizom ist keinem strukturalen oder generativen Modell verpflichtet. Es kennt keine genetischen Achsen oder Tiefenstrukturen" (20), die dagegen als Prinzipien der Kopie zu gelten haben. Das Wesentliche der Karte ist ihre Offenheit, "sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, demontiert und umgekehrt werden, sie ist ständig modifizierbar" (21). Während die Kopie als Baum- oder Wurzelprinzip sich immer nur selbst reproduziert, aus eins zwei macht, letztlich also "immer 'auf das Gleiche' hinausläuft" (22), setzt die Karte auf die schier unbegrenzbare Zahl ihrer Ein-, Aus- und Umgänge: "Man kann sie zerreißen und umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe oder gesellschaftlichen Formation angelegt werden. Man kann sie auf Mauern zeichnen, als Kunstwerk begreifen, als politische Aktion oder als Meditation konstruieren. Vielleicht ist es eines der wichtigsten Merkmale des Rhizoms, viele Eingänge zu haben; " (21).

 

Natürlich ruft ein so unerwartetes, neues und verunsicherndes Denken Kritiken hervor, immerhin stellt es alte Wissenschaftstraditionen zur Disposition und reißt sie in eine Legitimationskrise. So gesehen wurde wohl zu Recht vom "Paradigma des Rhizoms" [13] gesprochen, aber der Paradigmenbegriff ist seit Kuhns paradigmatischer "Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen" [14] nicht mehr frei verfügbar. Eine dieser Kritiken verdient besondere Beachtung, weil sie nicht aus "konservativer" Position heraus ansetzt, weil sie sich also nicht selbst verteidigen muss und weil sie von einem Denker stammt, den man oft noch in einem Atemzug mit Deleuze, Foucault, Derrida - kurz, den Postmodernen - nennt. Die Schelte Baudrillards ist als Kritik "von vorn" besonders aufschlussreich, beruft sie sich doch statt auf ein "zu viel" oder "zu weit" auf ein "zu kurz". Schon ein Jahr nach Erscheinen von "Rhizom" antwortet Baudrillard mit einer kleinen Schrift, die den programmatischen Titel "Oublier Foucault" [15] trägt, auch auf das Büchlein von Deleuze und Guattari. Zum einen wirft er den beiden vor, nach dem Ende der theologischen und teleologischen Macht, die Teleonomie - quasi als immanente, affirmative Eschatologie - an deren Stelle gehievt und damit die Struktur wieder eingeführt zu haben, zum anderen beunruhigt ihn "eine merkwürdige Komplizenschaft mit der Kybernetik" [16]. In der Tat gehen Deleuzens rhizomatische Vorstellungen, die man auch als Netzwerk zu begreifen versuchte, mit den technischen Mechanismen konform, bestätigen mit dieser Kompatibilität eine Entwicklung, die nicht nur für Baudrillard unerträglich ist. Andererseits ist nicht ganz auszumachen, wieso die reine Deskription - vom imperativischen Teil abgesehen - Destruktivismen und Negativismen forcieren sollte, ja, es ist sogar fraglich, ob der megamaschinelle status quo überhaupt propagiert wird. Baudrillard freilich geht von dieser Konsequenz aus. "Genau diese geheime Übereinstimmung muss deutlich (und lächerlich) gemacht werden. Heutzutage gilt es als chic und revolutionär, sich im Molekularen herumzutreiben" [17]. Letztlich ist aber auch er nicht vor der Apodiktizität gefeit, wenn er, möglicherweise mit ironischem Unterton, zusammenfasst: "Eine weitere Spiralwindung der Macht, des Wunsches und des Moleküls, die uns diesmal endgültig und unverhüllt mit der absoluten Kontrolle konfrontiert. Hütet euch vor dem Molekularen" [18]. Vielleicht ließe sich eine Annäherung erreichen, wenn man, statt vom auf-der-Hut-sein, vom gesunden Misstrauen spricht, und dieses scheint in der Tat angebracht. Gerade dem Paradigmatischen des Rhizoms ist zu misstrauen...

 

Dass etwas ein Rhizom ist, kann nicht heißen, alle rhizomatischen Bestandteile auffinden zu wollen, denn selbstredend enthält, auf der einen Seite, die Idee des Rhizoms einen gewissen idealtypischen Anteil - der Rattenbau z.B. ist streng betrachtet durchaus kein (reines) Rhizom - auf der anderen Seite beinhaltet jegliches Rhizom auch Baum- und Wurzelstrukturen, auch Strukturen jenseits der angedeuteten Charakteristika; es ist damit mehr als ein Rhizom, ebenso wie es weniger ist.

Am Auffälligsten dürfte die als Vernetzung, partiell als Puzzle - durchaus auch im Doppelsinne von zu Verbindendem und Rätsel - auftretende Gesamtkonstellation innerhalb eines Werkes sein, die weder beliebig funktioniert noch gewalttätige Vereinnahmungen und Verabsolutierungen gestattet [19]. Es wäre also, um dies zusammenzufassen, möglich - sofern das überhaupt möglich ist - die reinen Phänomene rhizomartig zu strukturieren, aber es wäre auch überflüssig, denn das Rhizom strukturiert, schafft sich selbst, so dass es vollkommen ausreicht, an die Wahrnehmung und an den Willen zur Wahrnehmung des Rezipienten zu appellieren. Die ist insofern gegeben, als die Emanationen alle in einem Punkt sich bündeln, nämlich in ihrem Schöpfer - das kann nie anders sein -, aber der selbst ist nicht der klassische Identitätstyp. "Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden", schrieb Deleuze, und man wird nicht umhin können, hier Abstriche zu machen, denn ob tatsächlich jeder beliebige Punkt mit jedem anderen zu verbinden ist, bleibt sicher fraglich, aber das muss nun nicht als Defizit entziffert werden. Vielmehr scheint es doch so, dass gerade dieses "jeder" und auch dieses "muss" ob ihrer Absolutheit gewisse totalitäre Tendenzen - nicht zu verwechseln mit den Vorwürfen von Welsch - andeuten. Nichtsdestotrotz ist es möglich, nahezu jeden beliebigen Punkt des Rhizoms mit nahezu jedem anderen zu verbinden, in den verschiedensten Dimensionen aufeinander zu beziehen, auch in Hinblick auf die "verschiedenen Codierungsarten", die den Philosophen vorschwebten. Das heißt, "in einem Rhizom verweist nicht jeder Strang notwendig auf einen linguistischen Strang: semiotische Kettenglieder aller Art sind dort nach den verschiedensten Codierungsarten mit politischen, ökonomischen und biologischen Kettengliedern verknüpft; es werden also nicht nur ganz unterschiedliche Zeichensysteme ins Spiel gebracht, sondern auch verschiedene Arten von Sachverhalten" (12).

So jedenfalls ließen sich die rhizomatischen Strukturen - diesbezüglich vergleichbar mit den sich selbst ähnlichen Strukturen, auf die Prigogine verwies - bis in die kleinsten Verästelungen nachvollziehen, bis auf die Ebene des Molekularen, des mikroanalytischen Bereichs zurückverfolgen.

Ihr Äquivalent im "großen und ganzen" lässt sich nicht minder aufzeigen. Man könnte darunter etwa jenes "Verfahren" sehen, das Deleuze und Guattari mit "n – 1 schreiben" wiedergaben, also das Machen des Vielen mit Hilfe der Auslassung des Einen, sprich die Unvollständigkeit. Eben der Verlockung widerstehen, ein Großes und ein Ganzes herzustellen! Nichts abrunden, nichts abschließen. Nicht die Form, die Systematik zum Diktator machen, nicht den Inhalt in Form gießen, sondern frei fließen lassen, "es" seinen Weg nehmen lassen und nicht furchtsame Verantwortlichkeiten konstruieren. Der Inhalt ist schon eine Form, und er hat seine eigene Systematik. Dies als schön empfinden zu können, ist keineswegs eine Frage kategorialer Apriorismen oder Transzendentalitäten, es ist eine Frage des Willens zur Wahrnehmung, eine Frage der Affirmation. Insofern ist auch der Werk-Begriff, der bislang unbekümmert genutzt wurde, fehl am Platze, er kann nicht mehr als eine Hilfsvokabel sein, denn gerade darum geht es, kein Werk zu schaffen, statt dessen zu werken. Wo das Werk sich tendenziell konstituiert, sich in Form gießt, zur Einheit gerinnt, muss es permanent hinterfragt werden, und nötigenfalls muss man derartigen Prozessen aktiv entgegenwirken. Dies ist innerhalb der Darstellung mit Hilfe des Prinzips des Bruchs möglich, um Ganzheiten, Schönheiten, Feinheiten meist dann zu zerstören, wenn sie am schönsten sind. Erwartungen sind im Rhizom einzig dazu da, enttäuscht zu werden. Der Bruch kann dabei die verschiedensten Variationen erfahren, er kann ein Abbruch, ein Einbruch oder Umbruch sein, er kann als Schnitt, Knick oder Knacks, als Falte oder Welle daherkommen, er kann das Ende oder einen Anfang bedeuten, er kann Riss oder Spalt, Kluft oder Hiatus sein, und er vermag sogar als Brücke zu fungieren, dann nämlich, wenn er erwartet wird, wenn das Prinzip des Bruchs zu brechen ist. Entscheidend ist einzig, nie alles zu sagen, sagen zu wollen. Dieses quasi-systematische Verfehlen eines Aussagesinns (oder einer Aussageform), eröffnet durch seine Absenz einen weitgefächerten assoziativen Raum voller möglicher Bedeutungen. So kann nur jemand sprechen, der das postmoderne Dilemma des Sprechens begriffen hat. Das "Problem der Schrift: nur mit ungenauen Ausdrücken kann man etwas genau bezeichnen. Nicht, weil man da hindurch müsste oder immer nur durch Annäherungen vorankäme: die Ungenauigkeit ist keineswegs eine Annäherung, sie ist im Gegenteil der genaue Verlauf der Ereignisse" (33).

 

Rhizomorphe Bücher:

Das alles gilt auch in Bezug auf die Außenseite des Werkes. "Der abendländische Leser wartet auf das Schlusswort" [20], und just diese Erwartung ist zu enttäuschen. Es ist, mit Botho Strauß, von Beginnlosigkeit die Rede und folglich auch von Endlosigkeit. Die Verwunderung darüber ist nichts anderes als der Hinweis, dass hier die Grenzen verschwimmen, dass hier Rhizom gemacht wird. Rhizmorphe Bücher beginnen nicht, sie sind einfach da, sie entbehren phasenweise der Sukzession und oftmals wird mit der Gleichzeitigkeit gespielt. Vor allem aber haben sie, im Gegensatz zum Wurzelbuch, keinen Plot, sind weitestgehend plan- und ideenlos [21]. Die Bücher selbst sind rhizomorphe Bücher [22], wie das Werk rhizomorph ist. Daher enden sie auch nicht, sondern sie sind einfach nicht mehr da, eher als vollführten sie eine substantielle Veränderung, als entglitten sie in die vierte Dimension, als dass sie abgeschlossen wären. Sie sind, wenn man so will, im Sinne des Wortes, geil. Auch der Begriff der Geilheit ist ursächlich ein botanischer, wo er als Synonym für wuchern gilt. Die geile Pflanze wächst üppig, treibt kräftig, schlingt wild, wuchert - sie macht Rhizom wie: "eine Rose ist eine Rose ist eine Rose...".

 

Schizo und Nomade:

"Jede Vielheit", schreiben Deleuze und Guattari, "die mit anderen durch an der Oberfläche verlaufende unterirdische Stängel verbunden werden kann, so dass sich ein Rhizom bildet und ausbreitet, nennen wir Plateau. Wir schreiben dieses Buch als Rhizom" (35). In erster Linie bezieht sich diese Aussage natürlich auf das Buch "Tausend Plateaus", als dessen Vorwort das kleine Rhizom-Büchlein fungierte, doch ist hier von "jeder" Vielheit die Rede. Eines der grundlegenden Charakteristika des zweiten Teils von "Kapitalismus und Schizophrenie" ist die (versuchte) Aufhebung der Sukzessivität und Linearität des Textes, der wiederum auch in seinen Bestandteilen als gleichzeitig gelesen werden kann.

Das lässt sich, um hier anzuknüpfen, auch auf die anthropologische und psychologische Ebene anwenden, es findet auch da seine Korrelate. Die Figur des "Schizo" gehört zu den Zentralgestalten des Denkens von Deleuze und Guattari. Es ist die Figur, die ihr "mehrere-sein" bejaht und die deshalb nicht mit dem klassischen Schizophrenen der Psychoanalyse zu verwechseln ist, der unter seiner Spaltung leidet und sie einem Leid "verdankt". Deshalb sind die Probleme des Schizos "wenigstens wirkliche Probleme, nicht Probleme von Neurotikern" (51). Er stellt seine Identität immer wieder zur Disposition, er wechselt sie und spielt mit ihr, ohne je zur identitätslosen Masse zu verkommen. Schon Nietzsche warnte: Verwechselt mich nicht! Er, der Schizo, ist der Eine, der Viele ist, mit vielen Stimmen spricht, mit den Maskierungen spielt, er ist immer unterwegs - und verfehlt, weil er keines mehr hat, stets sein Ziel, mehr noch, dieses Verfehlen selbst ist das Ziel: "dicht daran vorbeistreifen, das ist das Schizo-Gesetz" [23].

Die anthropologische Entsprechung ist der Nomade. "RHIZOMATIK = NOMADOLOGIE" (37), fassen der Philosoph und der Psychoanalytiker lakonisch zusammen. Der "Nomadologie" ist in "Tausend Plateaus" ein "zentrales" Kapitel gewidmet. Der Mensch hat, wie Dietmar Kamper einmal so einfach wie überzeugend anführte, keine Wurzeln, sondern Füße, sein stetiges Unterwegssein entspricht seiner Natur, seinem Wesen, wenn man so will. Der Weg des Nomaden führt nicht von A nach B; jenseits moderner Mobilitätsillusionen kennt er keinen Ziel-Ort - etwas, wovon der Fahrer immer noch träumt -, denn es ist allein der Weg, der sein Ziel ist. Dieser fügt sich den natürlichen Gegebenheiten: dort, wo das Leben ist, ist der Nomade. So stiftet er ständig neue, unerwartete Verbindungen, lebt eher in einem topologischen denn geschichtlichen Raum, hat eine größere Geographie als eine längere Geschichte. "Dabei kennen die Nomaden durchaus Punkte, zu denen sie 'immer wieder gerne' zurückkommen. Nomadisches Denken erlaubt es durchaus, immer wieder einmal beispielsweise zu Kant zurückzukommen oder an ihm vorbeizukommen. Aber was ihm zutiefst zuwider wäre, wäre ein Denken, das einen 'Standpunkt' hätte, von dem aus gefälligst gedacht werden müsste und für den dann jeweils die dezisionistische Irrationalität gelten müsste: hier stehe ich, ich kann nicht anders. Statt seiner gilt im nomadischen Denken die postmoderne Parole: hier stehe ich - ich kann auch noch ganz anders" [24]. Es ist dann nur folgerichtig, wenn Welsch mit Bezug auf die Vernunft die Transversalität als "Modus von Übergängen" gerade anhand der Nomadologie einführt, ist es doch der Nomade, der die Gegensätze verknüpft, und zwar nicht (nur) in paradoxaler Form, um sie so - ohne viel Aufhebens - geil wuchern zu lassen. "Lieber ein unmerklicher Bruch als ein signifikanter Schnitt. Die Geschichte hat nie das Nomadentum begriffen. Für diejenigen schreiben, die nicht lesen können" (39).

Wenn es aber das Signum des Nomaden ist, das Denken nicht als Ort, sondern als Weg zu begreifen, wenn er sich also im Zustand des Werdens statt des Seins befindet, dann wird statt des Ergebnisses die Bewegung zum Kriterium, dann kann nicht nach Vollkommenheit, Perfektion oder gar Richtigkeit gefragt werden, sondern muss die Originalität, Kreativität und die Wichtigkeit über den Wert eines Denkens entscheiden. In der Tat nähert sich dadurch der Philosoph dem Künstler mehr an, wie er sich vom strengen Wissenschaftler unterscheidet, und umgekehrt hat der Künstler die Möglichkeit erhalten, zum Philosophen zu werden. Nicht wie ein Philosoph soll der Künstler werden - das gerade nicht! - vielmehr steht die Aufgabe eines Philosoph-Werdens des Künstlers und des Künstler-Werdens des Philosophen.


[1] Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 1992
Deleuze, Gilles: Francis Bacon - Die Logik der Sensation. München 1995
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt 1996
[2] Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt 1996
Deleuze, Gilles: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. München 1993
[3] Foucault, Michel: Theatrum Philosophicum. In: Deleuze/Foucault: Der faden ist gerissen. Berlin 1977
[4] Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992
[5] Eco, Umberto: Nachschrift zum "Namen der Rose". München 1987. S. 65)
[6] Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialoge. Frankfurt 1980 S. 25
[7] vgl. ebd. 11/126 u.a.
[8] vgl. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972 - 1990. Frankfurt 1993 S. 217
[9] Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977. S. 8 (alle nachfolgend in einfache Klammer gesetzte Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch)
[10] Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. S. 28, /Hervorhebung J.S.)
[11] Hier genügt Nietzsche nicht, dessen aphoristisches Schreiben für Deleuze einmal "die reine Materie des Lachens und der Lust" war (Deleuze, Gilles: Nietzsche. Ein Lesebuch. Berlin 1979. S.118), denn sein Aufbrechen "der linearen Einheit des Wissens" wird in der "zyklischen Einheit der ewigen Wiederkehr wieder aufgehoben, ähnlich wie bei Joyce, der die lineare Einheit der Wörter und der Sprache aufbricht, um im gleichen Zuge eine zyklische Einheit des Satzes, des Textes oder des Wissens herzustellen" (10).
[12] Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt 1996. S. 360.
Welsch, der bislang als Verfechter des Denkens Lyotards sich einen Namen gemacht hat, scheint mit seinem großangelegten (Typ Lebenswerk) Buch einen deleuzeianischen Sprung zu vollführen, und das ist auch notwendig, wenn er seinen Gedanken der Transversalität der Vernunft behaupten will; nur wird man das Gefühl nicht los, dass besagtes Konzept, den erhofften Schritt in die Originalität nicht garantiert, denn es sind vor allem die Gedanken Deleuzens, die, in anderes Vokabular gekleidet, immer wieder daraus hervorlugen. So gelingt es dem Bamberger Philosophen nicht recht, Defizite im Rhizomkonzept aufzuspüren, die dann sein Transversalitätskonzept beseitigen könnte. Der dort erhobene implizite Totalitaritätsvorwurf, wonach Deleuze/Guattari die Wurzel und die Büschelwurzel zugunsten des absolut gesetzten Rhizoms eliminierten, verpufft deswegen als Kritik, weil er einfach nicht stimmt. Natürlich bleiben - und das ist die einzig mögliche Konsequenz der Prinzipien von Heterogenität und Konnexion - die anderen Formen als Möglichkeiten bestehen. "Es gibt also", schreiben Deleuze und Guattari, "die verschiedensten Verkettungen von Karten und Kopien, von Rhizomen und Wurzeln, mit variablen Deterritorialisierungskoeffizienten. Es gibt Baum- und Wurzelstrukturen in den Rhizomen, aber Zweige und Wurzelteile können auch plötzlich rhizomartig Knospen treiben. Die Bestimmung hängt hier nicht von theoretischen Analysen ab, die Universalien implizieren, sondern von einer Pragmatik, die Vielheiten oder Ensembles von Intensitäten zusammensetzt. Im Innern eines Baumes, in der Höhlung einer Wurzel oder in der Gabelung eines Zweiges kann ein neues Rhizom entstehen. Oder besser: ein mikroskopisches Element des Wurzelbaumes oder eine Wurzelfaser setzt die Produktion des Rhizoms in Gang." ( 25) und: "Aber natürlich ist uns auch eine Sackgasse recht, denn sie kann ja auch zum Rhizom gehören" (Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Berlin 1976. S. 8)
[13] Breuer, Ingeborg/Leusch, Peter/Mersch, Dieter: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie Frankreich/Italien. Hamburg 1996. S. 61
[14] Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolution. Frankfurt 1989
[15] Baudrillard, Jean: Oublier Foucault. München 1983
[16] ebd. S. 42
[17] ebd. S. 41
[18] ebd. S. 43
[19] "Auch ein 'offener' Text ist doch immer ein Text, und ein Text kann zwar unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt aber nicht jede beliebige Interpretation. Man kann nicht sagen, welches die beste Interpretation eines Textes ist, doch kann man durchaus sagen, welche Interpretationen falsch sind. Im Verlauf der unbegrenzten Semiose kann man von jedem Knoten des Netzwerkes zu jedem anderen gehen; aber dabei sind Regeln der Zusammenhangssetzung zu beachten, die die Geschichte unserer Kultur in gewisser Weise legitimiert hat" (Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. München/Wien 1992. S. 144
[20] Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994. S. 39
[21] Erdmann, Eva: Monsieur Rhizome. Paul Valéry und seine Cahiers. in: Balke/Vogl, S.304-318. S. 311
[22] "...schließlich gibt es das rhizomorphe Buch und Gebilde (livre rizomorphe), das sowohl die Bestimmung des äußeren Bezugs als auch des inhärenten Beziehungsgefüges seiner Teile aufgibt. Das Rhizom hört nicht auf zu produzieren, neue Satz- und Wortreihen zu bilden, neue Bilder herzustellen und sie in neue Zusammenhänge zu stellen. Offensichtlich hat das Rhizom weder einen Anfang noch ein Ende, es besteht aus begehbaren Räumen, die auf verschiedenen Etagen ineinander übergehen und verschieden genutzt werden können. Das rhizomorphe Werk verzichtet auf ein literarisches Gewand und wirft seine Äußerungen in der Form aus, in der sie zu Tage treten, als Seufzer, unartikulierte Gedankenströme, manierierte Satzverdrehungen und 'Stottern der Sprache selbst'. Zugunsten heterogener Sprechweisen werden die Despoten der 'Großsprache' übergangen, um die Äußerungen hervorzuheben, wie sie ihre Existenz jenseits der Literatur fristen" (Erdmann 311). Was die "Despoten der Großsprache betrifft, so verweist Eva Erdmann auf eine Passage der "Dialoge", wo Marx, Freud und Saussure als "Konzern, (der) eine herrschende Großsprache" (Dialoge 21) bilde, genannt werden.
[23] Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Berlin 1976. 84)
[24] Röttgers, Kurt/Gehring, Petra: Französische Philosophie der Gegenwart II. Lacan-Foucault- Deleuze/Guattari Hagen 1993. S. 195f.
Dies verallgemeinernd lässt die Signatur der Postmoderne durchscheinen: "'Postmodern ist, wer sich jenseits von Einheitsobsessionen der irreduziblen Vielfalt der Sprach-, Denk-, und Lebensformen bewusst ist und damit umzugehen weiß. Und dazu muss man keineswegs im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert leben, sondern kann schon Wittgenstein oder Kant, kann Diderot, Pascal oder Aristoteles geheißen haben" (Welsch: Postmoderne 35).


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